Martin, Kat - Perlen Serie
Zwischenfall war ohne Folgen geblieben, woraus Ethan schloss, dass es den Behörden genügte, Forsythe endlich wieder ergriffen zu haben, und sie die Angelegenheit seiner Flucht auf sich beruhen ließen.
Die Kutsche machte sich auf den Weg zu ihrem schaurigen Ziel. Die Hinrichtung war für acht Uhr angesetzt, und sie bra- chen rechtzeitig auf, um sich ihren Weg durch die Menschen- massen zu bahnen, die an diesem Morgen auf die Straße vor das Gefängnis von Newgate strömten.
Ethan wies den Kutscher an, in einer Seitenstraße zu halten. Als Grace aus der Kutsche stieg, konnte sie nur mit Mühe die
Tränen zurückhalten, denn auf diesen Anblick war sie nicht vorbereitet gewesen. Vor ihnen erstreckte sich ein bunter Hau- fen aus Taschendieben und Frauen von zweifelhaftem Ruf, Stutzern und Dandys, adeligen Damen und Gentlemen aus den besten Kreisen Londons. Händler verkauften Pasteten und Lebkuchen, und sogar ein Lumpensammler zog durch die Men- ge. Eine Frau, die Äpfel briet, pries lautstark ihre Ware an. Es wurde getanzt und gelacht, gegessen und getrunken. Von den be- waffneten Soldaten abgesehen, schien es ein wahres Volksfest zu sein.
Grace holte schaudernd Luft, und Ethan legte seinen Arm um sie. „Geht es?"
Sie nickte. Anders als andere Damen, die sich in Samt und Pelz gekleidet hatten, trug sie von Kopf bis Fuß Schwarz - ein schwarzes Kleid, schwarze Schuhe, einen schwarzen Hut und einen dichten schwarzen Schleier.
Auch ihr Herz trug Trauer. Grace war heute gekommen, um ihrem Vater beizustehen - einem Mann, den kennen zu lernen sie kaum Gelegenheit gehabt hatte.
Sie reckte ihren Hals, um den Galgen sehen zu können, der vor dem Gefängnis aufgestellt worden war. Entschlossen be- gann sie, sich ihren Weg durch die Menge zu bahnen, und hörte Ethan hinter sich fluchen.
„Verdammt, Grace, geh nicht nach vorne! Du hast für dei- nen Vater bereits mehr getan als irgendjemand seiner Bekann- ten."
„Ich will nur, dass er weiß, dass ich bei ihm bin."
„Tu dir das nicht an, Liebste. Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass es Erinnerungen gibt, die dich dein ganzes Leben lang verfolgen werden."
Sie sah zu ihm auf und versuchte mühsam, die Tränen zu- rückzuhalten. „Ich muss es tun, Ethan." Sie wandte sich von ihm ab und suchte nach einem Platz, an dem ihr Vater sie sehen würde. Ethan folgte ihr, denn wenn sie ihn brauchte, wollte er bei ihr sein.
„Hier entlang", sagte er und führte sie zu einer Haustreppe, von der aus man das Geschehen gut beobachten konnte. Grace spürte, wie Ethan schützend seine Hand um ihre Taille leg- te, und wenn sie ihn nicht bereits so lieben würde, wäre dies sicher der Moment gewesen, in dem sie sich unsterblich in ihn verliebt hätte.
„Sie kommen", meinte er leise. Grace folgte seinem Blick
zu dem tristen Ziegelbau, der sich gewaltig über der Straße er-
hob und in dem sich nun eine Tür öffnete. Heute würde nur ein
einziger Gefangener gehängt werden, denn die Hinrichtung ei-
nes Verräters, noch dazu eines Viscounts, dem es gelungen war,
sich fast ein Jahr seiner Strafe zu entziehen, war ein Ereignis,
das allein schon bedeutsam genug war.
Grace empfand tiefe Beklommenheit in ihrem Herzen, als
sie über die jubelnde Menge hinweg auf den Mann sah, der nun
mit eisernen Fußschellen an den Beinen aus dem Gefängnis
kam. Er trug weder seinen Bart noch die Brille, die ihm lange
Zeit als Tarnung gedient hatten. Stattdessen war er wie ein
Gentleman gekleidet, mit dunkelbraunen Hosen, einem Geh-
rock mit samtenem Kragen und einem blendend weißen Hemd
mit Halsbinde. Mit erhobenem Haupt sah er den letzten Minu-
ten seines Lebens entgegen.
Ihre Tränen ließen alles vor Grace' Augen verschwimmen.
„Vater", flüsterte sie. Ethan griff nach ihrer Hand und ver-
schränkte seine Finger mit den ihren. Ihn in ihrer Nähe zu wis-
sen beruhigte sie ein wenig.
Die Menge hatte laut zu johlen begonnen. Sie bewarfen den
Mann, den sie für einen Verräter hielten, mit Gegenständen und
beschimpften ihn. Der Verurteilte hielt seinen Blick jedoch mit
aristokratischer Würde starr geradeaus gerichtet, und Grace
war stolz, seine Tochter zu sein.
Auf einmal erkannte sie zu ihrer Überraschung eine ver-
traute Gestalt in der aufgebrachten Menschenmenge.
„Tante Matilda!", rief Grace und eilte die Treppe hinunter.
Sie versuchte, sich ihren Weg zu der alten Dame und ihrer Be-
gleiterin zu bahnen. „Lady Tweed!"
Beide Frauen drehten sich um, weil sie
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