Martin, Kat - Perlen Serie
„Haben Sie mir aus diesem Grund erlaubt, an Deck zu kommen, und wa-
ren in den letzten Tagen etwas freundlicher als sonst? Weil Sie wollen, dass ich Ihnen verrate, wo der Viscount sich versteckt hält?"
Er wandte seinen Blick von ihr ab. „Zum Teil."
„Wenigstens sind Sie ehrlich."
„Wissen Sie denn, wo er ist? Wenn ja, sollten Sie die Informa- tion auch zu Ihrem eigenen Besten nicht für sich behalten." „Ich weiß nicht, wo er sich aufhält. Und wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen. Aber ich habe wirklich nicht die geringste Vorstellung."
Argwöhnisch sah er sie an, als wüsste er nicht, ob er ihr glau- ben sollte. Dann änderte sich sein Ausdruck unmerklich. „Sie scheinen tatsächlich nicht zu wissen, wo Jeffries steckt."
„Seit seiner Verhaftung habe ich nicht mehr mit ihm gespro- chen. Warum ist es Ihnen so wichtig, ihn zu finden? Sie halten ihn für einen Verräter, und ich verstehe auch, weshalb die Re- gierung an ihm interessiert ist - Ihre Motive hingegen scheinen persönlicher Art zu sein. Was hat der Viscount Ihnen getan?" Sein Gesicht nahm einen so harten Zug an, dass sie fast wünschte, diese Frage nicht gestellt zu haben. Er atmete tief durch, bevor er zu sprechen begann. „Vor diesem Schiff hat- te ich ein anderes, die Sea Witch. Wir waren im Auftrag des Kriegsministeriums unterwegs. Jeffries hatte Zugang zu Unter- lagen, die unsere genaue Route beschrieben, und er hat diese Informationen an die Franzosen verkauft."
„Das können Sie nicht mit Sicherheit wissen!" Seine An- schuldigung schockierte sie.
„Er war der Einzige, der das notwendige Wissen hatte, uns zu verraten. Die Sea Witch wurde gekapert und sank, meine Männer wurden umgebracht oder starben später im Gefäng- nis. Nur einem gelang die Flucht."
„Dem schlaksigen Ned - und Ihnen."
„Ganz genau. Die Franzosen haben mein Leben verschont, weil sie sich dachten, ihre Gefängnisse seien eine schlimmere Strafe als der Tod. Sie hatten Recht. Zum Glück hatte ich Freunde, die mich nicht vergessen hatten und nicht eher auf- gaben, bis sie mich befreit und sicher nach Hause gebracht hatten. Meine Männer hatten weniger Glück."
Grace schwieg. Sie sah die Wut, die unter der scheinbar ru- higen Oberfläche brodelte, konnte den tiefen Hass in den eisig blauen Augen des Captains erkennen. „Sie täuschen sich, was
den Viscount anbelangt. Es tut mir Leid, was mit Ihrer Mann- schaft geschehen ist, aber ..."
Sein kalter Blick ließ sie verstummen. „Tut es das? Wenn es Ihnen wirklich Leid tut, dann verraten Sie mir, wo ich Harmon Jeffries finde."
„Ich sagte Ihnen bereits, dass ich es nicht weiß."
Unwirsch griff er sie beim Arm. „Es wird Zeit, dass wir nach unten gehen. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen, als mich um das Wohl meiner Gäste zu kümmern."
Sie versuchte, den beißenden Sarkasmus seiner Worte zu überhören. Er war wütend, weil er dachte, sie wolle ihm nicht helfen. Doch das wenige, das sie über den Viscount wusste, würde dem Captain sicherlich nicht weiterhelfen. Und sie hat- te nicht vor, es ihm zu erzählen, denn Harmon Jeffries war ihr Vater. Sie hatte sich entschlossen, ihm zu helfen, und würde das auch tun.
Sie konnte nicht ungeschehen machen, was sie getan hatte. Und wenn der Captain sie dafür verachtete, ließ sich das nicht ändern.
Aber mittlerweile konnte sie ihn zumindest besser verste- hen.
6. KAPITEL
Ein Sturm zog auf. Hohe Wellen schlugen über dem Bug der Sea Devil zusammen. Das Schiff wurde hin und her geworfen, hob und senkte sich in dem gewaltigen Seegang. Auf Deck stand das Wasser, und der Himmel war so dunkel, dass Tag und Nacht kaum noch zu unterscheiden waren.
Der Sturm hielt drei Tage an und zwang Grace, in der Ka- bine zu bleiben. Mehrere Male schien sich bei ihr die Seekrank- heit anzukündigen, doch der Zwieback und die Rinderbrühe, mit der Freddie sie versorgte, hatten verhindern können, dass sie sich wirklich elend zu fühlen begann.
Sobald das Wetter sich ein wenig beruhigt hatte, fing Grace erneut an, unruhig in der Kabine auf und ab zu gehen. Sie wartete darauf, dass Captain Sharpe oder Angus McShane sie für ihren Spaziergang an Deck abholen würden, aber die
Stunden vergingen, und keiner der beiden kam. Da sie meinte, keine Minute länger mehr eingesperrt sein zu können, nahm sie schließlich verärgert ihren Umhang vom Haken neben der Tür und warf ihn sich um die Schultern. Sie würde unterwegs schon einen der beiden finden, damit er sie
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