Martin, Kat - Perlen Serie
begleitete.
Wenngleich der Wind sich gelegt hatte, spürte Grace, dass noch immer eine eisige Brise über Deck fegte. Die Holzplan- ken waren zudem nass und rutschig.
Sie hielt einen der vorbeigehenden Matrosen an und sah, dass es der Zweite Maat war, ein muskulöser Mann namens Willard Cox. „Entschuldigen Sie, Mr. Cox, aber haben Sie Mr. McShane gesehen?"
„Jawohl, Miss. Er arbeitet unter Deck." Cox ließ seinen Blick in einer Art über sie schweifen, die ihr nicht gefiel. Von einer auffälligen Narbe auf seiner Wange abgesehen, war er ein gut aussehender Mann, der wohl glaubte, dass er bei jeder Frau Chancen hatte. Die Vorstellung belustigte sie jedoch eher, als dass sie sie ängstigte. „Sie sollten auch nicht hier oben sein, Miss. Gehen Sie lieber zurück in Ihre Kabine."
Verärgert hob Grace das Kinn. Wer glaubte er denn zu sein, dass er ihr nun Befehle erteilte! „Vielleicht haben Sie ja Cap- tain Sharpe gesehen?"
„Der ist hier, Miss, kommt gerade die Leiter aus dem Lager- raum herauf."
Und da sah Grace ihn schon eilig auf sich zukommen. Sein finsterer Gesichtsausdruck und seine offensichtliche Verärge- rung ließen sie erschrocken einen Schritt zurücktreten.
„Verdammt noch mal!", rief er aus, als er sie fast erreicht hatte, und unwillkürlich wich sie noch weiter vor ihm zurück. In genau diesem Moment geriet das Schiff durch eine mäch- tige Welle in eine Schieflage, und Grace versuchte verzweifelt, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei blieb sie mit ih- rem Schuh an einem am Boden liegenden Tau hängen. Wild mit den Armen rudernd strauchelte sie seitwärts, da spülte plötz- lich eine große Welle über Deck und erfasste Grace.
„Grace!", hörte sie den Captain rufen, bevor die Welle sie mit sich riss.
Sie schrie laut auf, als sie in das eiskalte Wasser stürzte und sofort in der Tiefe versank. Salzwasser drang ihr in Mund und Nase, und alles, was sie tun konnte, war, die Lippen zusammen- zupressen, um nicht noch mehr zu schlucken. Sie hielt die Luft
an und versuchte verzweifelt, wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen. Ihr Haar hatte sich gelöst und wirbelte wild um ihren Kopf. Der graue Rock hatte sich voll Wasser gesogen und drohte sie immer tiefer nach unten zu ziehen. Ganz gleich, wie sehr sie versuchte, an die Oberfläche zu schwimmen, sie schien sich immer mehr davon zu entfernen.
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie ertrinken würde. Mit aller Kraft bewegte sie nun Arme und Beine. Anders als die meisten Frauen war sie eine gute Schwimmerin, denn sie hatte es sich im Internat zusammen mit ihrer Freundin Victoria bei- gebracht. Noch konnte Grace den schwachen Lichtschein der Wasseroberfläche über sich sehen. Wenn sie doch nur hinaufge- langen könnte!
Aber der Rock schien all ihre Anstrengungen zunichte zu machen und sie endgültig in die Tiefe zu ziehen. Ihre Lungen brannten, und sie konnte die Luft nicht mehr viel länger anhal- ten. Sie wollte nicht sterben! Entschlossen stieß sie sich einige Male mit Armen und Beinen ab und durchbrach für einen kur- zen Moment die Wasseroberfläche. Es gelang ihr, einmal durch- zuatmen, dann versank sie wieder. Auf einmal war ihr, als sähe sie im Wasser einen Schatten - doch je weniger Luft sie bekam, desto benommener wurde sie.
Ein weiteres Mal versuchte sie, nach oben zu kommen, aber es gelang ihr nicht mehr, und ihre Kräfte begannen zu schwin- den. Da spürte sie plötzlich eine starke Männerhand, die sie um die Taille fasste und nach oben schob. Mit letzter Kraft bewegte Grace Arme und Beine, bis sie zusammen mit ihrem Retter endlich an der Wasseroberfläche auftauchte.
Ein Rettungsring aus Kork schwamm ganz in der Nähe. Der Captain griff danach und schob ihn Grace in die Arme.
„Halten Sie sich daran fest!", rief er. „Wir werden durchhal- ten müssen, bis meine Leute uns hier rausholen!"
Keuchend holte sie Luft, spuckte Salzwasser aus und nickte wortlos. Sie klammerte sich an den Rettungsring und beobach- tete in der Ferne, wie eines der hölzernen Beiboote vom Schiff herabgelassen wurde.
Sie konnte sehen, wie die Männer an den Rudern sich ins Zeug legten, um das kleine Boot schnellstens durch die hohen Wellen zu lenken. Trotzdem brauchten sie eine Weile, bis sie sie erreichten. Willard Cox, ein weiterer Seemann, der der rote Tinsley genannt wurde, und der schlaksige Ned waren an Bord.
Als sie Grace und den Captain entdeckt hatten, versuchten sie so nahe wie möglich an die Stelle zu kommen, an der sie
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