Martin, Kat - Perlen Serie
sich ein Schwarm Albatrosse aufschwang und landeinwärts flog. Das Sonnenlicht funkelte auf dem Wasser wie Diamanten, und der Himmel strahlte an diesem Morgen so klar und blau wie die Wildblumen in den Highlands an einem schönen Früh- lingstag.
„Sie sind in letzter Zeit sehr verstimmt", bemerkte Angus
nun. „Ich vermute, dass Sie die Kleine noch nicht im Bett hat- ten."
Der Captain fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. „Sie meinen, dass sie ganz anders sei, als Sie zunächst glaub- ten. Mir geht es genauso, Angus. Sie ist weitaus naiver, als ich dachte. Jeffries muss sie verführt haben. Wahrscheinlich war er der erste Mann, der sie überhaupt berührt hat, und das wohl nicht besonders häufig."
„Sie wollen sie also in Ruhe lassen?"
Die Kiefermuskeln des Captains spannten sich. „Sie schul- det mir etwas. Schließlich hat sie dem Verräter geholfen, der meine Männer auf dem Gewissen hat. Dafür muss sie bezah- len. Es ist alles nur eine Frage der Zeit."
„Was haben Sie vor?"
Ethan blickte über das Meer. Ein großer Fisch sprang aus dem Wasser, blitzte kurz silbrig in der Sonne auf und ver- schwand wieder in der Tiefe. „Ich muss herausfinden, ob sie weiß, wo Jeffries ist. Und ich muss mehr über sie selbst erfah- ren. Danach werde ich entscheiden, wie ich weiter vorgehe." Angus nickte schweigend. Ethan Sharpe war ein guter Mann und würde das Richtige tun. Aber Angus war sich genauso we- nig darüber im Klaren wie der Captain selbst, was das Rich- tige war.
Schleppend langsam verging auch die nächste Woche. Wie ver- sprochen, durfte Grace sich frei an Deck bewegen, solange der Erste Maat oder der Captain selbst sie begleiteten.
Den kräftigen alten Schotten begann sie fast in ihr Herz zu schließen. Er schien den Captain schon lange zu kennen und scheute nicht davor zurück, ihm seine Meinung zu sagen. Oder aber ihr selbst hartnäckig Fragen zu stellen.
„Warum haben Sie das getan, Mädchen? Wussten Sie denn nicht, was passieren würde, wenn Sie diesem Mann zur Flucht verhelfen?"
Grace seufzte und lehnte sich an die Reling. „Ich musste ihm helfen. Er ist ... ein Freund. Ich konnte ihn nicht einfach dem Galgen ausliefern."
„Sie lieben ihn, was?"
Grace wusste zwar, dass die Frage gänzlich anders gemeint war, aber die Antwort blieb dennoch die gleiche. „Ich denke, das tue ich." So unwahrscheinlich es schien, einen Vater lieben
zu können, den sie erst wenige Wochen zuvor kennen gelernt hatte, so entsprach das doch der Wahrheit. Jedes Jahr hatte er ihr einen langen Brief geschrieben, in dem er ihr von seinem Leben erzählte und wie sehr er sich wünschte, dass sie zusam- men sein könnten.
Ihre Mutter hatte seine Botschaften in all den Jahren ver- steckt, doch vor drei Monaten hatte Grace dennoch die Wahr- heit erfahren. Die liebevollen Worte der Briefe hatten ihr Herz berührt: Ihr leiblicher Vater hatte sie nicht vergessen, sondern sogar ihre Ausbildung finanziert. Wäre es möglich gewesen, hätte er sie bei sich großgezogen. Wie konnte sie sich nun von ihm abwenden?
Auch Captain Sharpe begann, ihr Fragen zu stellen, aber er bemühte sich stets, die heiklen Themen zu umschiffen. „Leben Ihre Eltern in London?"
„Ja. Mein Vater ist Arzt. Wir verstehen uns nicht besonders gut."
„Warum nicht?"
Weil ich nicht seine leibliche Tochter bin und er mich deswe- gen hasst, dachte sie bitter. „Er schätzt mich nicht, da er findet, ich sei zu freimütig", sagte sie stattdessen.
„Nun, das sind Sie ja auch. Zumindest mehr als jede andere Frau, die ich kenne."
Das Blut schoss ihr in die Wangen. „Ich weiß, dass es eine schlechte Eigenschaft ist."
„Nicht unbedingt." Er hob ihr Kinn leicht an. „Ich finde mehr und mehr Gefallen an einer Frau, die sagt, was sie denkt." Sie sah ihn direkt an und fragte sich, ob er wohl die Wahrheit sagte oder nur versuchte, mit Schmeicheleien ihr Zutrauen zu gewinnen, um so an Informationen zu gelangen.
„Sie reden selbst nicht besonders lang um eine Sache he- rum", bemerkte sie, und er lächelte. Ihr war aufgefallen, dass er das in letzter Zeit etwas häufiger tat.
„Das stimmt allerdings."
Trotzdem brachte er die Flucht aus dem Gefängnis erst am Nachmittag des nächsten Tages zur Sprache. „Wir wissen bei- de, dass Sie schuldig sind. Sie haben es sogar zugegeben. Wenn Sie den Behörden sagen, wo Jeffries sich versteckt hält, wür- den sie Ihnen gegenüber nachsichtiger sein."
Mit dieser Frage hatte sie seit langem gerechnet.
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