Mary Poppins
den Kinderwagen schieben, wenn du ihn mitnimmst.«
Mary Poppins schnupfte auf. »Wäre es nicht Freitag, wärst du im Handumdrehen zu Haus«, sagte sie geheimnisvoll zu Michael, »wirklich im Handumdrehen.«
Sie setzte sich mit John und Barbara wieder in Bewegung. Jane und Michael merkten, daß sie nachgegeben hatte und folgten ihr, sich überlegend, was sie mit dem Handumdrehen gemeint hatte. Auf einmal merkte Jane, daß sie in die falsche Richtung gingen.
»Mary Poppins, wolltest du nicht Pfefferkuchen kaufen? – Das ist aber nicht der Weg zu Green, Brown und Johnsen, den wir sonst immer gegangen sind – «, begann sie zaghaft, stockte jedoch gleich wieder nach einem Blick auf Mary Poppins’ Gesicht.
»Mache ich Einkäufe oder du?« fragte Mary Poppins.
»Du!« gab Jane kleinlaut zu.
»O wirklich? Meiner Ansicht nach geht der Weg so herum«, sagte Mary Poppins und lachte spöttisch.
Sie gab dem Kinderwagen einen leichten Druck zur Seite und bog um die Ecke. Dort hielt sie plötzlich an, und da Jane und Michael hinter ihr dreintrotteten, mußten sie notgedrungen auch stehenbleiben.
Sie standen vor dem seltsamsten Laden, den sie je gesehen hatten. Er war sehr klein und sehr ärmlich. Verblaßte, bunte Papierschleifen hingen in den Schaufenstern, deren Auslage aus armseligen Bechern mit Halbgefrorenem, alten Lakritzenstangen und gedörrten, hartgewordenen Apfelschnitten bestand. Zwischen den Fenstern war ein schmaler, dunkler Eingang, und dort hinein steuerte Mary Poppins den Kinderwagen. Jane und Michael folgten ihr.
Drinnen im Laden konnten sie nur undeutlich den mit einer Glasplatte bedeckten Ladentisch erkennen, der an den drei Wänden entlanglief. Im Kasten unter der Glasplatte lag eine Unmenge dunkler, knuspriger Pfefferkuchen, jeder einzelne mit einem goldenen Stern verziert. Der ganze Laden schimmerte davon.
Jane und Michael schauten sich um, wer hier wohl bediente. Sie waren verblüfft, als Mary Poppins laut rief:
»Fannie! Annie! Wo seid ihr denn?« Wie ein Echo hallte ihre Stimme von den dunklen Wänden zurück.
Auf ihren Ruf kamen hinter dem Ladentisch zwei Gestalten hervor, so riesig, wie Jane und Michael noch nie welche gesehen hatten. Sie schüttelten Mary Poppins die Hand. Dann beugten sich die Riesenfrauen über den Ladentisch vor und sagten mit einer Stimme, die so großmächtig war wie sie selber »guten Tag«. Dabei schüttelten sie auch Jane und Michael die Hand.
»Wie geht es Ihnen, Miß –?« Michael zögerte, weil er nicht wußte, welche der beiden großen Damen er vor sich hatte.
»Ich heiße Fannie!« sagte die eine. »Mein Rheumatismus ist immer noch schlimm, vielen Dank für die Nachfrage.« Sie sprach so weinerlich, als sei sie eine liebenswürdige Behandlung gar nicht gewohnt.
»Schönes Wetter heute«, begrüßte Jane artig die andere Schwester, die mit mächtigem Händedruck Janes Hand festhielt.
»Ich bin Annie!« sagte sie in klagendem Ton. »Schön ist, wer schön handelt.«
Jane und Michael fanden, daß sich beide Schwestern reichlich sonderbar ausdrückten, aber es blieb ihnen nicht viel Zeit, sich zu wundern, denn Miß Annie und Miß Fannie streckten jetzt ihre langen Arme nach dem Kinderwagen aus. Jede schüttelte feierlich einem der Zwillinge die Hand, die so erstaunt waren, daß sie zu schreien anfingen.
»Aber, aber, aber! Was ist denn, was ist denn?« erklang eine hohe, dünne, zitterige Stimme aus dem Ladenhintergrund. Bei ihrem Klang wurden die traurigen Gesichter von Miß Annie und Miß Fannie noch trauriger. Sie sahen ganz erschrocken und verschüchtert aus, und Jane und Michael kam es so vor, als hätten sich die beiden Riesenschwestern am liebsten ganz klein und unscheinbar gemacht.
»Was muß ich hören?« rief die zitterige Stimme und kam näher. Und plötzlich schob sich um die Ecke des Ladentischs eine alte Dame, die so klein und piepsig war wie ihre Stimme und ebenso zitterig. Den Kindern kam sie älter vor als alles in der Welt, mit ihrem Haar, das aussah wie ein Flederwisch, ihren Stöckelbeinen und ihrem verschrumpelten, winzigen Gesicht. Aber im Gegensatz zu ihrem Aussehen lief sie so leicht und munter auf sie zu wie ein junges Mädchen.
»Aber, aber, aber – ah, ich fange an, zu verstehen! Himmel, wenn das nicht Mary Poppins ist mit John und Barbara Banks! Jane und Michael sind auch dabei? Das nenne ich eine Überraschung! Ich kann euch sagen, seit Christoph Kolumbus Amerika entdeckt hat, habe ich keine solche Überraschung mehr erlebt
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