Mary Poppins
Verwunderung Ausdruck zu geben.
»Ich dachte, sehr verehrte…«, begann sie und zögerte verwirrt, ungewiß, ob sie sprechen dürfe oder nicht.
»Sprich, mein Kind. Was dachtest du?«
»Nun – daß Löwen und Vögel, und Tiger und kleine Tiere…«
Die Schlange half ihr. »Du dachtest, sie seien von Natur Feinde, und der Löwe könne keinem Vogel begegnen, ohne ihn zu fressen. Und der Tiger keinem Hasen – nicht?«
Jane wurde rot und nickte.
»Da magst du recht haben. So etwas gibt es. Aber nicht am Geburtstag! Heut nacht sind die Kleinen sicher vor den Großen, und die Großen beschützen die Kleinen. Selbst ich – «, die Schlange hielt inne, um, wie es schien, tief nachzudenken. »Selbst ich kann bei dieser besonderen Gelegenheit einer Ringelgans begegnen, ohne Appetit zu verspüren. Und wenn man’s richtig überlegt«, fuhr sie fort und züngelte beim Sprechen mit ihrer schrecklichen, gespaltenen, kleinen Zunge, »so ist Fressen und Gefressenwerden vielleicht dasselbe. Erfahrung lehrte mich, daß es wahrscheinlich so ist. Wir sind alle aus dem gleichen Stoff gemacht, vergiß es nicht, wir aus dem Dschungel und ihr aus der Stadt. Wir bestehen aus dem gleichen Stoff – der Baum über uns, der Stein neben uns, der Vogel, das Tier, der Stern – wir alle sind eins und gehen demselben Ende entgegen. Denke daran, mein Kind, auch wenn du mich längst vergessen hast!«
»Aber wie kann ein Baum gleich einem Stein sein? Ein Vogel ist nicht wie ich. Jane ist kein Tiger!« sagte Michael beherzt.
»Meinst du?« fragte die zischelnde Stimme der Schlange. »Schau hin!« Und sie wies mit dem Kopf auf die hüpfenden Tiere.
Die Vögel und alle anderen Tiere schwenkten nun ein, und die Kette zog sich um Mary Poppins zusammen, die sich leicht hin und her wiegte. Sich öffnend und wieder schließend bewegte sich die schwingende Kette, vor und zurück, wie ein Uhrpendel. Selbst die Bäume bogen und hoben sich sanft, und der Mond schien am Himmel zu schaukeln wie ein Schiff auf dem Meer.
»Vogel und Tier, Stein und Stern – wir alle sind eins, alle eins…«, murmelte die Schlange und glättete sanft ihre Haube, während sie selbst zwischen den Kindern hin und her schwang.
»Kind und Schlange, Stern und Stein – alles eins.«
Die zischelnde Stimme wurde leiser, das Geschrei der tanzenden Tiere ließ nach und verstummte. Während Jane und Michael zuhörten, war ihnen, als schaukelten sie selber leise…
Ein weicher, gedämpfter Lichtschimmer fiel auf ihr Gesicht.
»Schlafen und träumen – beides zugleich«, sagte eine flüsternde Stimme. War es die Stimme der Schlange? Oder die ihrer Mutter, die sie zudeckte bei ihrem gewohnten nächtlichen Besuch im Kinderzimmer?
»Gut!« War das des Braunbären verdrießliche Stimme oder die Mister Banks’?
Jane und Michael, weiter schaukelnd und schwingend, wußten es nicht… wußten es nicht.
»Ich hatte heute nacht einen seltsamen Traum!« sagte Jane beim Frühstück, während sie Zucker über ihren Haferbrei streute. »Mir träumte, wir waren im Zoo, und Mary Poppins hatte Geburtstag, statt der Tiere steckten Menschen in den Käfigen, und die Tiere selbst waren alle frei…«
»Was? Das ist mein Traum! Das hab ich geträumt!« rief Michael und sah ganz erstaunt aus.
»Wir können nicht beide dasselbe geträumt haben!« sagte Jane. »Weißt du’s bestimmt? Erinnerst du dich noch an den Löwen, der seine Mähne hatte dauerwellen lassen, an den Seehund, der wollte, daß wir…«
»Nach Orangenschalen tauchen?« unterbrach Michael. »Natürlich erinnere ich mich! Und an die kleinen Kinder im Käfig, und an die Schlange…«
»Dann kann es kein Traum gewesen sein!« sagte Jane. »Es muß wahr gewesen sein. Und wenn es das war…« Sie blickte fragend auf Mary Poppins, die gerade die Milch abkochte und fragte: »Mary Poppins, können Michael und ich dasselbe geträumt haben?«
»Ihr und eure Träume!« sagte Mary Poppins. »Iß lieber deinen Haferbrei, oder du bekommst keinen Toast mit Butter!«
Aber Jane wollte sich nicht abweisen lassen. Sie mußte es wissen.
»Mary Poppins«, sagte sie und blickte sie eindringlich an, »warst du gestern nacht im Zoo?«
Mary Poppins sperrte vor Verblüffung den Mund auf.
»Im Zoo? Ich im Zoo – bei Nacht?! Ich? Eine ruhige, ordentliche Person, die weiß, was sich schickt und was nicht –?«
»Du warst also wirklich nicht dort?« bestand Jane auf der Antwort.
»Gewiß nicht. Was für ein Einfall! Ich wäre dir dankbar, wenn du
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