Maschinenkinder
Oh Gott, Maurice! Ich versuche, den Kopf anzuheben – mir fehlt die Kraft dazu. »Ein Telefon, bitte. Es ist dringend, lebenswichtig. Sie müssen mich … entlassen.«
Er nickt, doch seine Lippen bleiben schmal. »Wir kümmern uns schon um alles. Erst richtig wach werden, einverstanden?«
»Nein, Sie verstehen nicht. Mein Bruder, er … er –«
Schwindel.
Mir wird schwarz vor Augen.
***
Der Korridor im oberen Stock ist vom Zauberlicht durchflutet. Das Fenster glüht in tausend Farben, dahinter der Baum, die Wolken.
Ein milder Tag und Sonnenschein.
Auf der Hinfahrt habe ich die ganze Zeit geweint, jetzt bin ich gefasst, in einer seltsam dumpfen Stimmung, die es mir leichter macht, die letzten Schritte zu gehen und seine Tür zu öffnen. Mechanisch tippe ich den Zahlencode ein, drehe den Türkauf nach rechts; und ein schrecklicher Gestank schlägt mir entgegen, nicht etwa süßlich, mehr nach … So riecht das also.
Maurice ist tot.
Ich weiß es, noch ehe ich den Raum betrete.
Mit einer Hand vor Mund und Nase zwinge ich mich durch den Türrahmen, hebe den Kopf: Er hockt am Schreibtisch, die Sensecap auf dem kahlem Kopf, als würde er an Machina arbeiten – wie immer; wie die ganzen letzten Jahre auch. Der Anblick hat etwas Friedliches. Fast schön, ihn so zu sehen. Ich weine, lasse die Tränen einfach laufen, während ich hingehe, ohne zu atmen, und den Datenhelm aufsetze.
Wo er wohl gestorben ist?
Als das Ambient an mir runterfließt, verfliegt der Leichengeruch – frische Luft!
Wildblumenpollen kribbeln in meiner Nase.
Die Steppe im Morgenlicht.
Nach kurzer Suche finde ich den Hügel wieder, auf dem unser Luftschiff steht – prall gefüllt und startbereit, um zur Maschinenstadt aufzubrechen.
Maurice’ Avatar sitzt davor im Gras, den Werkzeuggürtel auf den Knien, und betrachtet still den Himmel:
Wie an einem Kindermobile drehen dort Vögel aus Silber ihre endlosen Kreise.
ELYSIAN
Es ist wieder so weit! Nach einem kurzen Werbeblock beginnt das Viertelfinale unserer legendären Spielshow »Marionetten«. Elf Millionen Neumark sind im Jackpot. Verpassen Sie keine Sekunde! Bleiben Sie dran. Nur bei KTLL!
Quizmaster Cyrill Schäfer lächelte in seinen schmierigen Garderobenspiegel, ein perfektes Lächeln, das eine Stange Geld gekostet hatte: Er konnte es sich leisten, jetzt, seit die Show alle Zuschauerrekorde brach …
Noch vor zwei Monaten verhökerte der produzierende Fernsehsender zur Primetime nur gefriergetrocknetes Fleisch und Synthfruits per Oceanwire; nun sah die Sache anders aus. Sendeleiter Boris Kosloff hatte alles auf eine Karte gesetzt: Ansehen, Geld und Moral, und er hatte gewonnen. Schon nach der zweiten Ausstrahlung liefen bei ihm die Drähte heiß, namhafte Firmen sicherten sich Werbeblöcke für astronomisch hohe Summen – keine langen Verhandlungen, kein Wimpernzucken seitens der Marketingleiter; das Geschäft war viel zu lukrativ:
Die Einschaltquoten hatten jede Skala gesprengt.
Mit abgelecktem Finger glättete Schäfer die Augenbrauen, prüfte den Belag seiner Zunge, zupfte sein strahlend weißes Hemd zurecht, dann stand er vom Stuhl auf und lächelte in den Spiegel. Seine Narben verheilten schlecht, was bei diesem Kellerloch auch kein Wunder war, ein schmerzhaftes Ziehen an der Oberlippe; gleich nach der Show wollte er den Arzt aufsuchen.
Während Schäfer sein goldenes Jackett von der Stuhllehne nahm und überstreifte, warf er einen Blick auf die Uhr: noch sechs Minuten. Von draußen hörte er den frenetischen Applaus der Publikumshologramme.
Noch Zeit für ’ne Fluppe.
So öffnete er die Schublade seines Schminktischs und kramte nach der Packung, klopfte eine der Zigaretten heraus, schnippte gegen die Zündspitze, damit sich das Kraut von selbst entfachte. Schräg lächelnd steckte er den Glimmstängel in den Mund und atmete ein; Vanillegeschmack.
Er war ein verdammter Glückspilz, dachte Schäfer und blies Rauch durch die Zähne. Keiner wollte das heiße Eisen anpacken, außer ihm, nicht mal Melissa Friendly, und die war sich sonst für nichts zu schade.
Scheiße, er hatte es geschafft!
Seine persönliche Assistentin stürmte in die Garderobe. »Vier Minuten, Cyrill. Brauchst du noch was: Blast , Tangerine ? Kaffee vielleicht?«
Der Quizmaster lächelte sie an. »Schon gut, Natalie. Sag der Crew, von mir aus kann’s losgehen.«
»Super.« Natalie hob den Daumen. »Ach, Kosloff will dich sehen, irgendwas wegen dem Product-Placement.«
»Was, jetzt
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