Maschinenkinder
Nacken. Deutliche Wundränder umgeben die Doppelbuchse – rot, fast blau; der Junge hat sich die I/Os erst kürzlich bohren lassen, weniger als einen Tag her, höchstens zwei.
Treffer.
Schwerter und Pixelblut auf dem Schirm: Der Kleine ist gut, ruhiger Atem, schnelle Reflexe, vielleicht etwas zu schnell für einen 17-Jährigen, aber wen interessiert das schon – unten in den Asphaltgärten, wo der Bodensatz hockt, den das Schicksal gekaut und wieder ausgespuckt hat wie einen Kaugummi ohne Geschmack. Hier sind sie gleich, alle. Abschaum!
»Hey, Kleiner.« Popcorn schmiegt sich an ihn und lächelt. »Wenn du so weitermachst, brichst du meinen Rekord …«
»Schon gehört«, sagt der Teen, voll auf das Spiel konzentriert. »Popcorn, wie? Niemand kommt an dich ran.«
»Och, du machst dich nicht schlecht.« Ihre Lippen berühren jetzt fast seinen Ohrring; Totenkopf an Lippenstift.
Level 11 ist schwierig, zu viele Gegner in zu kurzer Zeit – wie im richtigen Leben. Der Schmetterlingsschlag geht ins Leere.
»Mist!«, ruft der Junge und hämmert auf die Steuerung ein. »Ah, verdammt.«
»Rien ne va plus«, lacht Popcorn, doch ihre Augen bleiben hart. Sie nimmt den Oberkörper zurück. »Komm, Süßer, ich spendier dir ’nen Drink.«
***
Am Tresen. Sie reicht ihm den Sunburn rüber. »Erzähl mal, wo hast du’s machen lassen?«
»Hm?«, fragt der Teen, setzt das Glas an die Lippen und trinkt.
»Die I/Os, sind die vom Magier?«
»Nee, hat’n Freund aufgebohrt.«
»Garagenarbeit, was?«
»Yeah.« Kurz starrt der Teen auf ihr Bein: Ein Flüssigtattoo in Form einer Mamba schlängelt sich unter ihren Rock, flackernd wechselnde Neonfarben, grün zu rot zu eisblau. »Gehörst diesem Mexikaner, oder; der mit dem komischen Namen?«
»Quetzalcoatl.« Popcorn leert ihr Glas – schiebt es weg. »Nein … Nicht mehr.« Sie nimmt die zitternde Hand vom Tresen. »Falsches Thema, Kleiner.«
»Tut mir leid.«
»Ist okay.«
Der Barkeeper kommt. »Kriegt ihr noch was?«
»Hast du Pflaster?«, fragt der Junge.
»Ich meinte was zu trinken, Punk!«
»Noch zwei Kurze«, sagt Popcorn, während sie nervös ihren Rocksaum glättet. »Schreib’s für mich an.« Und zum Teen: »Wenn du was kleben oder einschmeißen willst, hab ich genau das Richtige für dich.«
»Keine Kohle.«
»Ich bin kein Dealer. Von dir will ich was anderes …« Sie schenkt ihm ein funkelndes Candy-Lächeln.
»Ach so, cool«, sagt der Junge, breit grinsend. »Ich bin dabei.«
Popcorn stößt den Sunburn an seinen; nickt, lacht, kippt ihn runter.
Alle gleich. Der Plan geht auf.
***
Im sauren Regen kauert Raven unter dem Schirm einer Straßenlaterne und wartet; Neonlicht färbt das Albino-Haar blau. Als er den Kopf langsam hebt, gleiten die Strähnen zurück – sein Gesicht ist aschfahl und verschwitzt vom fehlenden Plug-in.
Stunden seit dem letzten Kick.
Zitternd starrt er auf die Leute, buntes Volk, das an ihm vorüberdrängt, während er gegen den Durst und die Unruhe ankämpft, gegen die Leere in seinem Kopf. Dann verschnürt er den Mantel, löst seinen Rücken vom Pfahl und verschwindet in der Menge.
Ein paar Minuten lässt er sich treiben, vorbei an Warenständen mit Neofrüchten und 5Sense-Tapes, bevor er einen der Hinterhöfe erreicht. Es ist ruhiger hier, fast still.
Raven schaut sich um:
Beschmierte Wände, Holoposter, Rohre, auf denen der Regen zerspringt; das vertraute Bild nach fünf Jahrzehnten. Ob Nord – ob Ost, jeder Asphaltgarten sieht immer gleich aus, ein blindes Fenster hier, dort Graffiti; ein geifernder Hund zerwühlt den Müll.
Und da bemerkt Raven die Frau, die unter dem Vordach ihre Wäsche aufhängt. Sie ist üppig, ausladende Hüften, dicke Arme; das Haar hat sie zu einem Knoten hochgesteckt. Sofort geht er auf sie zu, angezogen von den Buchsen am Hals … beschleunigt seine Schritte.
»Lou, ein Kerl ist gekommen«, hustet die Frau, als sie Ravens Gestalt im Regen sieht.
»Sag ihm, er soll sich verpissen«, dröhnt es aus dem Hauseingang. »Mein Geschäft ist geschlossen.«
Raven bleibt stehen, starrt die Frau an, bis er sich umdreht und schnell zur Straße marschiert.
Zu heikel.
***
»Wo sind wir hier?«
Popcorn hat den Jungen die Treppe einer alten U-Bahn-Station abwärts geführt – sie stehen jetzt im Schatten, nur Lichtflecken auf den Wänden, an denen Poster aus dem Showbiz-Jenseits hängen. In einer Ecke stapeln sich Kartons, verrostete Stangen und das Skelett einer ausgeschlachteten Konsole,
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