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Maschinenkinder

Maschinenkinder

Titel: Maschinenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shayol Verlag
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warf:
    Die Szene im Labor. War er Wissenschaftler gewesen? Woran hatte er gearbeitet? Und dann fiel ihm schlagartig ein: Jemand hatte ihn Bruderherz genannt! Ein gewisser Philippe, woher kannte er den? Vielleicht nur ein Arbeitskollege, das Gesicht war ihm völlig fremd. Oder ob er tatsächlich, immerhin hatte er einen Vater erwähnt und —
    Schutt! Die Wakan machte einen Satz nach vorn, als das Vorderrad über die Steine holperte. In der flirrenden Luft konnte Gabriel den Asphalt der Serpentine kaum einsehen, es gab zu viele Spiegelungen – von Felsen, Sträuchern, dürrem Gras am Straßenrand; die Sicht war stark verschwommen, als würde er durch Wasser schlittern. Beide Hände am Lenker behielt Gabriel die Maschine im Griff, fluchte, während er den meterlangen Schuttteppich hinter sich brachte. Diese Strecke war echt das Letzte!
    An der nächsten Steigung beschleunigte er, und sein Kraftrad fraß sich die Corniche hinauf bis zum Scheitelpunkt, wo ein Olivenhain begann – verkohlte Äste, graue Scholle; und kaum oben angelangt, fiel der Hügel auch schon wieder steil ab. Die Wakan klopfte, er nahm Gas zurück. Schluchten zu beiden Seiten, in denen sich Geröll und Felsen gesammelt hatten. Gabriel schaute in den Abgrund – unten blauer Schatten und einige Sträucher, und plötzlich ein Lkw-Wrack, das offensichtlich von der Straße gefegt worden war, als der Feuersturm bis zum Alpenrand rollte.
    Wie ein verendetes Tier lag es zwischen den Felsen.
    Weiter vorn erstreckte sich ein Tal vor seinen Augen, rechts die Alpen, links das Meer, und mittig breite Terrassen, auf denen schwarze Bäume standen, doch als Gabriel den Zoom betätigte und der Ausschnitt näherrückte, sah er: Kreuze – hunderte, tausende von Kreuzen! An fast allen hingen Tote, die man mit Fesseln oder Nägeln am Holz befestigt hatte; ihre Leiber waren ausgezehrt, von der Sonne vertrocknet wie Obst. Merde! Deswegen wirkte die Gegend zwischen Menton und Monaco verlassen: Ein Exodus hatte stattgefunden, eine letzte Prozession, mit der eigenen Kreuzigung zum Ziel.
    Kannte der Fanatismus keine Grenzen? Wie konnte es sein, dass eine hoch technisierte Zivilisation im atomaren Elend derart verkümmerte – dass religiöser Wahn solch schreckliche Blüten trieb?
    Unendlich müde, als hätte er tagelang nicht geschlafen, drosselte er sein Kraftrad und hielt an. Leichen über Leichen, nahm das kein Ende? Die Brutalität in den Ruinenstädten war ihm fast lieber, der offene Kampf ums Überleben. Dort lebten noch Menschen, die sich nicht aufgegeben hatten, trotz ihrer Strahlungswunden, trotz der furchtbaren Geschwüre, die ihre Körper zerfraßen. Nach Süden! Für heute hatte er genug Tote gesehen.
    Mit einem Handgriff schaltete er den Motor aus. Dann stieg er ab. Er schob den Schalensitz zurück, öffnete den Seesack und kramte nach dem Reiseatlas, den er herauszog und entrollte. Ein Druck auf das Startmenü, und schon tauchten Städte und Straßen aus den Tiefen der Folie auf – flackernde Linien, Kreise, Punkte. Kurz überflog er die Distanzen. Er befand sich ungefähr auf halber Strecke zwischen Monaco und Nizza, das hieße, die nächste Abfahrt wäre noch —
    Impossible! Gabriel riss die Augen auf: In unmittelbarer Nähe zu seiner Position blinkte ein Punkt, etwas südlich, direkt an der Küste. Misstrauisch kratzte Gabriel über die Markierung, als wäre sie nur Dreck oder ein Pixelfehler. Der Punkt blieb. Unter ihm stand in eisblauer Schrift: Schiffsfriedhof.
    Sperrzone.
    ***
    Vom Bergschatten getarnt, lag das Militärareal in einem Felsenbecken nahe Monaco – Werften und Kais bis zum Meer vorgelagert; unter rostigen Pfeilern schäumten die Wellen hindurch. Überall wucherte Stacheldraht, ein Dickicht aus stählernen Dornen, das die Zäune, Lastenkräne und Kasernen umschlang, über Relings, Tanks und gebrochene Wrackteile kletterte wie eine Schlingpflanze auf der Suche nach Sonnenlicht.
    Der Stützpunkt schien längst verlassen.
    Gabriel stellte das Mikrofon seines Helms auf volle Leistung, doch nur die Brandung, das Schwappen von Wasser und Möwengeschrei drang zu ihm durch.
    Niemand war hier, außer ihm.
    Ohne zu zögern, stieg Gabriel von der Maschine, nahm seinen Helm ab, stopfte ihn in den Seesack, bevor er dem planierten Feldweg bis zu einem Gitterzaun folgte, dessen Maschen derart verrostet waren, dass er sie mit zwei, drei Stiefeltritten nach innen wegbrechen konnte. Vorsichtig kroch er durch das Loch, Draht verkratzte die Lederjacke, dann

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