Masken der Lust (German Edition)
venezianische Zerstreuungen. Sie würde noch ‹schamlose Verführung› auf die Liste setzen. Eine Gestalt im Umhang, mit Dreispitz und der weißen Halbmaske eines Adligen, lüftete keck das hinreißende perlrosa Ballkleid einer Dame, und es sah nicht danach aus, als blühe ihm eine Ohrfeige. Ein einladender Blick lag in ihren funkelnden Augen, und ein freudiges Lächeln umspielte ihre Lippen.
Die Venezianer glaubten ehrlich an das Streben nach Lust, und die Künstler der Serenissima hatten es im Überfluss eingefangen. Mehr denn je wollte Sarah in jene Zeit zurückkehren und nach Belieben lüstern sein dürfen.
Eine andere Galeriebesucherin, die weite Chino-Pants und Kopfhörer trug, trat hinzu und spähte auf das Gemälde, ohne die beiden zu beachten. Ein dicker Stadtführer war in eine ihrer Cargotaschen gestopft, und aus der anderen lugte ein Panini-Sandwich aus seiner Alufolie. Sarah rätselte, wie sie damit an den Saalwächtern vorbeigelangt war.
Die Frau lauschte den Erläuterungen, die sie beide mithören konnten, hakte das Gemälde von der Liste in ihrer Hand ab und strebte einem weiteren Saal entgegen, wobei sie ihren Pullover herunterzog, der sich um die Taille hochgeschoben hatte. Der grobe Strick und der kinnhohe Rollkragen hielten sie vermutlich warm. Im Obergeschoss des Ca’ Rezzonico war es ein wenig klamm.
Sarah dachte, wie nett es doch wäre, wenn Marco die Arme um sie legen würde. Großartige Kunst. Gutaussehender Mann. Im Arm gehalten werden. Gab es etwas Besseres?
Der Blick auf das nächste Gemälde ließ sie schlagartig verharren. Das Wandtäfelchen daneben übersetzte den italienischen Titel in Der Salon der Nonnen und gab als Entstehungsjahr 1768 an. Hä? Die Frauen sahen nicht wie Nonnen aus.
Sie waren beinahe so verschwenderisch gekleidet wie die Frau in Perlrosa, obgleich sie hinter einem Wandschirm saßen, um Besucher zu empfangen. Die Szene wirkte viel mehr gesellschaftlich als religiös. Da tollte ein Hund herum, und eine Frau mit tiefem Ausschnitt stand vor dem Wandschirm.
Sarah zog ihren eigenen Reiseführer aus der Handtasche, blätterte zum Stichwortverzeichnis vor und dann zu dem Eintrag über das Gemälde. Sie las die mit viel Sorgfalt gewählten Worte und las gleichzeitig zwischen den Zeilen.
« Zur Wahrung der Tugend junger Adelsfrauen, die unverheiratet geblieben waren – um das Geld für die Mitgift zu sparen – schickten ihre liebevollen Familien sie – sie wurden unter Geschrei und Fußtritten dorthin gezerrt – in solche Klöster, die ihnen eine gewisse Freizügigkeit gewährten – wo niemand genau hinsah –, wie den Besuch befreundeter Herren – oh, richtig, wie Casanova –, mit denen sie Konversation betreiben – keuch, keuch – und sich anderweitig die Zeit vertreiben konnten .»
«Ah, ja.» Marco lachte. «So lief das damals.»
Sie steckte das Buch weg.
«Sollen wir ins Erdgeschoss gehen?»
«Gern.» Sie wollte sich die Fresken von Tiepolo ansehen und dann woandershin gehen. Zu Mittag essen. Mit Wein. Was auf eine erotische Begegnung hinausliefe – hoppla. Wäre das überstürzt? Das Gleich-kriege-ich-meinen-Willen-Lächeln der Dame mit dem gerafften Kleidersaum hatte sie beseelt. Die Erinnerung an Marcos Körper, der sich an sie drückte, brannte heiß in ihrem Kopf.
Er sagte sehr wenig, während Sarah ausgiebig Sieg der Vornehmheit und der Tugend über die Unwissenheit und Allegorie an Tapferkeit und Weisheit bewunderte. Offensichtlich zählte der Gedanke. Damals wie heute waren die Venezianer keinesfalls den fleischlichen Freuden abgeneigt.
Sie warf einen Blick in den kürzlich restaurierten Ballsaal hinein, ehe sie beide, benommen von der überbordenden Pracht, das Museum verließen. Ebenso wenig waren die Venezianer gewaltigen, glitzernden Kronleuchtern und vergoldetem Zierrat gegenüber abgeneigt. Die trübe Nässe draußen war vergleichsweise beruhigend.
Marco nahm sie bei der Hand. Seine eigene war warm und kräftig. Sie gingen auf die kleine Brücke über den Rio di San Barnaba, und Sarah blickte die schmale Wasserstraße hoch. Viel konnte sie nicht sehen. Dichter Nebel waberte von der Lagune herein, verhüllte die Giebel der alten Gebäude und dämpfte die Geräusche des Bootsverkehrs.
«Wir könnten ein Vaporetto nehmen», sagte Marco.
Sie reckte den Hals und hielt danach Ausschau. Zum Glück lag das Ca’ Rezzonico gleich am Canal Grande, denn ihr nächster Anlaufpunkt war die Accademia. Sie wollte die alten Meister sehen,
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