Masken der Lust (German Edition)
solange sie mit Marco zusammen war, obwohl ihr Eile verhasst war, ganz besonders in dieser verwunschenen Stadt mit ihren jahrhundertealten Schätzen. Wenn sie doch nur länger bleiben könnte. Doch es wäre zu teuer, wenn sie ihren Rückflug verschieben würde, vor allem um einen Feiertag, wenn wahrscheinlich noch viele andere ihren Aufenthalt verlängerten.
Kein Vaporetto tauchte auf.
«Machen wir uns doch einfach auf die Hufe.»
«Verzeihung?», sagte Marco.
«Auf die Hufe machen. Zu Fuß gehen.»
«Das könnten wir tun. Die Accademia ist nur ein kurzes Stück entfernt. Aber lass uns noch ein paar Minuten warten.»
Damit war sie völlig einverstanden. In Venedig konnte man sich leicht verlaufen, obwohl ihr das mit ihm natürlich nicht passieren würde. Sicherer war es hingegen, wenn man über die Wasserstraßen an einen anderen Ort gelangte. Sie hatte schon oft die Vaporetti, auch für kurze Strecken, genommen. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie mit Marco ihre erste Gondelfahrt machen wollte. Zwar war das ein wenig abgedroschen, aber herrje, es musste einfach sein.
Ein Polizeiboot kam vorbei und hielt sich ausnahmsweise an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit, aber das lag am Wetter. Es folgte ein roter, mit Zementsäcken beladener Lastkahn, der tief im trüben Wasser lag. Kein glanzvoller Anblick im Vergleich zu den schnittigen schwarzen Gondeln.
Marco an ihrer Seite zu haben und sich zurückzulehnen, während ein kräftiger Gondoliere die Arbeit machte, wäre der Himmel. Es war einfach erstaunlich, wie sie ihre Boote durch die seichten Kanäle bewegten. Doch momentan waren keine zu sehen.
Nie ist eine Gondel da, wenn man eine braucht, dachte Sarah und lächelte vor sich hin. Nicht, dass sie sich die Fahrt darin überhaupt leisten könnte, nicht mit dem knappen Budget einer Kunststudentin. Marco würde darauf bestehen zu zahlen, sollte sie sich die Fahrt wünschen, und sie würde sich vorkommen, als hätte sie ihn dazu genötigt.
Nein, dieses Vergnügen würde warten müssen, bis zwei Schecks ihr Konto deckten – und dem war noch nicht so gewesen, als sie am Morgen an einem Geldautomaten ihren Kontostand geprüft hatte. Die ramponierte Maschine voller Aufkleber und Schmierereien hatte einen Zettel mit einer bedrückend niedrigen Zahl ausgespuckt.
Hatte Vincent die Schecks überhaupt eingereicht? Sie vertraute ihm vollkommen, ihrem eigenwilligen besten Freund und Kollegen in der Teilzeitversklavung bei Wet-Paint, dem Geschäft für Künstlerbedarf in Brooklyn, für das Sarah nicht länger arbeiten wollte. Sie hatte gekündigt und trotzdem einen Abfindungsscheck zusätzlich zu ihrem letzten Gehaltsscheck versprochen bekommen. Aber die Buchhaltung bei WetPaint war schon immer ein wenig fragwürdig gewesen. Idiotischerweise hatte der Geschäftsführer einen Konzeptkünstler damit betraut. Sarah betete im Stillen, dass die beiden Schecks nicht platzten.
Sie schob die Sorge um ihre Finanzen beiseite und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Marco, der durch eine Lücke im Nebel, die vom Wind gerissen worden war, nach dem fernen Himmel sah. Weit draußen hingen dunkelgraue, bedrohlich aussehende Gewitterwolken dramatisch tief über der Lagune. Das Zwielicht war unwirklich, aber spannungsvoll und verlieh den leeren Straßen und Kanälen etwas Traumartiges. Bei einem bevorstehenden Sturm würde niemand bereitwillig aufs offene Wasser fahren, und ein Italiener ließ keine Regentropfen an sich heran, wenn er sie irgendwie vermeiden konnte. Ihre Wirtin hatte sie am Morgen gedrängt, einen Schirm mitzunehmen, doch Sarah war unbekümmert davon ausgegangen, dass Nasswerden mit Marco Spaß machen würde.
Das Gewitter ließ zwar auf sich warten, aber die Touristen blieben trotzdem in ihren Hotels. Sarah und Marco hatten die Accademia größtenteils für sich. Sie durchwanderten die Ausstellungsräume einen nach dem anderen. Sie war zu abgelenkt durch seine Gegenwart, um viel wahrzunehmen oder eine Menge Fragen zu stellen, fühlte sich allmählich vom schieren Kunstreichtum überwältigt und ärgerte sich, dass ihr derart die Sinne darüber schwanden. Sie musste aufmerksam bleiben, hatte sie doch auf absehbare Zeit nicht das Geld, um noch einmal nach Venedig zu kommen.
Die Gemälde, Zeichnungen, Skizzen und Plastiken gerieten in ihrem Kopf ganz durcheinander, eine verwirrende Ansammlung von Sinneseindrücken – von glänzenden Porträts des venezianischen Adels über Genrebilder von Kleinbauern zu
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