MASKENBALL UM MITTERNACHT
von der Gesellschaft ihres Bruders. Am Arm eines fremden Herrn nachts durch eine stille dunkle Straße zu schlendern, glich einem Abenteuer. Callie hatte nie zuvor etwas getan, was die Menschen ihrer Umgebung schockiert hätte. Und irgendwie konnte sie keinen Anlass finden, etwas Unrechtes in ihrem Tun zu sehen. Keinerlei Schuldgefühle nagten an ihr, stellte sie zu ihrem eigenen Erstaunen fest. Sie fühlte sich lediglich frei und beschwingt.
Sie wusste allerdings auch, dass ihre Stimmung nicht nur auf Abenteuerlust beruhte. Wenn sie ehrlich war, hatte ihr Wohlgefühl eine Menge mit dem Herrn an ihrer Seite zu tun.
Callie warf ihm einen heimlichen Seitenblick zu, registrierte sein markantes Profil, die hohen Wangenknochen, den Anflug von Bartwuchs zu dieser späten Stunde. Sie spürte seine Kraft und Männlichkeit, nicht nur die Muskelkraft seiner breiten Schultern und seines sehnigen Körpers, sondern das männliche Selbstvertrauen, das er ausstrahlte. Während er mit ihr plauderte, wirkte er dennoch wachsam und auf der Hut, als sei er irgendwie sprungbereit. Er schien zu den Menschen zu zählen, an die man sich vertrauensvoll wenden konnte, wenn man Hilfe in der Not brauchte. Andererseits befürchtete Callie auch, dass er kein Mann war, mit dem man sich ungestraft anlegen sollte.
In mancher Hinsicht glich er ihrem Bruder. Weniger weltgewandt als der Duke, strahlte er einen draufgängerischen originellen Charme aus. Und außerdem spürte sie einen ähnlich eisernen Willen in ihm, der auch Sinclair innewohnte, eine Beharrlichkeit, die der verweichlichten Lethargie mancher Vertreter der englischen Aristokratie fehlte.
Als spüre er ihre Gedanken, sah er ihr in die Augen, und sein dunkler Blick traf Callie mit der Wucht eines Blitzschlags.
Scheu schlug sie die Augen nieder, in der Befürchtung, ihr Blick könnte verraten, welch magische Anziehungskraft er auf sie ausübte. Lord Bromwell brachte sie aus der Fassung wie kein Mann vor ihm. Ihre Beklommenheit bewirkte, dass sie nur noch stärker in seinen Bann geriet, statt auf der Hut vor ihm zu sein. Sie hätte gern gewusst, was Sinclair an diesem Mann störte, warum er so feindselig auf ihn reagiert hatte.
„Ich muss mich für die schroffe Art entschuldigen, wie mein Bruder Sie behandelte“, begann sie und warf ihm wieder einen Seitenblick zu.
Bromwell zuckte gleichmütig die Achseln. „Es ist nur normal, wenn ein Bruder um das Wohl seiner Schwester besorgt ist. Er wollte Sie beschützen. Das verstehe ich sehr gut, da ich, wie gesagt, selbst eine Schwester habe.“
„Ich will nur hoffen, Sie übertreiben ihre Beschützerrolle nicht, wie mein Bruder es tut“, entgegnete Callie lächelnd.
Er lachte leise. „Du lieber Himmel! Sie würde mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn ich versuchte, ihr Vorschriften zu machen. Sie ist ein paar Jahre älter als ich, und meist sagt sie mir, was ich zu tun habe, statt umgekehrt.“ Das belustigte Funkeln wich aus seinen Augen, in seiner Stimme schwang ein bitterer Unterton, als er fortfuhr: „Allerdings würde ich niemandem raten, ihr zu nahe zu treten.“
„Ich liebe meinen Bruder und meine Großmutter, aber manchmal ist mir ihre Fürsorge ziemlich lästig“, gestand Callie.
„Hat diese lästige Fürsorge Sie bewogen, Lady Haughston einen nächtlichen Besuch abzustatten?“
Callie zögerte, ehe sie ausweichend antwortete: „Ich besuche Lady Haughston, weil ich sie um einen Gefallen bitten möchte.“
Zu ihrer Erleichterung machte ihr Begleiter sie nicht darauf aufmerksam, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte, und verzichtete auch auf eine Bemerkung über die ungewöhnliche Stunde, jemanden um einen Gefallen zu bitten. Mittlerweile sah Callie nämlich schuldbewusst ein, wie töricht es war, Hals über Kopf fortzulaufen, und sie dankte im Stillen ihrem Schicksal, dass ihr Lord Bromwell unterwegs begegnet war und kein Schurke, der Böses im Sinn hatte.
„Sie müssen mich für kindisch und albern halten“, sagte sie errötend. „Ich gebe zu, im Zorn unüberlegt gehandelt zu haben.“
„Nein.“ Er lächelte offen. „Ich halte Sie für jung und schön.“ Das belustigte Funkeln trat wieder in seine Augen. Nach kurzem Schweigen setzte er hinzu: „Aber ich könnte mir denken, dass Sie die Geduld Ihrer Familie gelegentlich auf eine harte Probe stellen.“
Callie lachte. „Damit mögen Sie recht haben.“
Es fiel ihr schwer, den Blick von ihm zu wenden, obgleich ihr bewusst war, dass sie ihn schon
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