MASKENBALL UM MITTERNACHT
Anmaßung, er könne ihr Vorschriften machen, hatte sie so sehr aus der Fassung gebracht, dass sie vergessen hatte, ihn nach dem Grund seiner Abneigung gegen den Earl zu fragen. Hatte Bromwells schlechter Ruf ihren Bruder bewogen, sie vor ihm zu warnen? War der Mann dafür berüchtigt, junge Mädchen zu verführen?
Wirre Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, jeder beängstigender als der vorhergehende, während sie wie angewurzelt auf dem Gehsteig stand. Ihr letzter Gedanke, an den sie sich hilflos klammerte wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm, war die Hoffnung, er habe ihre Stimme nicht erkannt, auch nicht ihr Gesicht unter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze. Sie könnte immer noch kehrtmachen und fliehen.
Doch im nächsten Augenblick schwand auch diese Hoffnung. Er war mittlerweile so nah, dass sie sein verblüfftes Gesicht sehen konnte. „Lady Calandra? Sind Sie es wirklich?“
Callie schluckte schwer und straffte die Schultern. Nun galt es, besonnen zu sein und alles daranzusetzen, zu verhindern, dass der Name ihrer Familie durch ihr unüberlegtes Handeln durch den Schmutz gezogen wurde.
„Lord Bromwell. Kein Wunder, dass Sie überrascht sind.“ Callie suchte fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung für ihren nächtlichen Ausflug.
„Wahrhaftig. Zunächst dachte ich, meine Phantasie spiele mir einen Streich.“ Er blieb zwei Schritte vor ihr stehen. „Was führt Sie nachts allein auf die Straße? Ohne Begleitschutz? Wo ist Ihre Familie?“
Callie wies mit einer vagen Geste über die Schulter. „In ihren Betten. Ich … ich konnte nicht schlafen.“ Etwas Dümmeres konnte mir wohl nicht einfallen, dachte Callie verzweifelt.
„Deshalb der nächtliche Spaziergang?“ Seine hochgezogenen Brauen verrieten seine Zweifel.
„Sie halten mich gewiss für ausgesprochen töricht“, antwortete sie beschämt.
„Aber nein.“ Er lächelte nachsichtig. „Ich habe selbst eine Schwester und bin mir der Engstirnigkeit der Gesellschaft wohl bewusst, deren Regeln den Freiheitsdrang einer jungen Frau so sehr einschränken.“
Callie erwiderte sein Lächeln dankbar. Anscheinend waren ihre Ängste unbegründet. Er schien ihr Verhalten nicht zu missbilligen. Sein verständnisvolles Lächeln, seine beruhigende Stimme flößten ihr Vertrauen ein. Und nichts an seinem Benehmen ließ auf einen Verführer schließen, kein lauernder Blick, kein einschmeichelnder Tonfall, keine anzügliche Anspielung.
„Dann werden Sie … nicht darüber sprechen …?
„Von unserer nächtlichen Begegnung?“, beendete er ihren stockenden Satz. „Natürlich nicht. Was soll auch verwerflich daran sein, wenn eine junge Dame einen Spaziergang macht, hab ich recht?“
„Gewiss … ich habe mir nichts dabei gedacht“, stimmte Callie ihm erleichtert zu.
„Aber bitte, wenn Sie gestatten, begleite ich Sie nach Hause.“ Er bot ihr höflich den Arm.
„Ich gehe nicht nach Hause. Ich bin im Begriff, Lady Haughston einen Besuch abzustatten.“
Er wirkte etwas verdutzt, verzichtete zu Callies Erleichterung jedoch auf eine Bemerkung über ihr ungewöhnliches Vorhaben, mitten in der Nacht eine Freundin zu besuchen, sondern sagte lediglich: „Dann ist es mir ein Vergnügen, Sie zum Haus von Lady Haughston zu begleiten, wenn Sie mir den Weg zeigen, da ich mich in London nicht sonderlich gut auskenne, wie Sie wohl schon vermutet haben.“
„Durchaus nicht. Aber ich nehme an, wir sind uns vor dem heutigen Abend noch nie begegnet.“ Callie, die mittlerweile ein wenig Vertrauen gefasst hatte, legte ihre Hand in seine Armbeuge, und die beiden setzten ihren Weg fort.
„Seit ich mein Erbe angetreten habe, verbringe ich den Großteil des Jahres auf meinem Landsitz“, erklärte er. „Das Anwesen war damals leider in einem bedauernswerten Zustand, deshalb blieb mir wenig Zeit für …“ Achselzuckend ließ er den Satz unbeendet.
„Frivole Vergnügungen?“, schlug sie vor.
Er sah sie lächelnd an. „Es liegt mir fern zu behaupten, ein Leben in London bestehe aus frivolen Vergnügungen.“
Callie schmunzelte. „Ich könnte es Ihnen nicht verdenken. Gewisse Vergnügungen können nämlich ziemlich frivol sein.“
„Gegen ein bisschen Frivolität hätte ich nichts einzuwenden.“
Der Spaziergang an der Seite dieses Mannes hob Callies Stimmung, erfüllte sie mit einem prickelnden Wohlgefühl. Der Plauderei haftete etwas seltsam Aufregendes an, was vermutlich daran lag, dass sie höchst selten mit einem Mann allein war, abgesehen
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