MASKENBALL UM MITTERNACHT
stundenlang in einem fremden Haus herumzusitzen. Eigentlich sollte sie sich bei Lady Swithington entschuldigen und wieder zu Francesca fahren. Allerdings wusste sie nicht, wie sie Bromwells Schwester taktvoll beibringen sollte, dass Francesca sie als Anstandsdame für ungeeignet hielt. Irene und Gideon würden gewiss später noch dazustoßen, und dann hätte sie völlig umsonst auf das Vergnügen verzichtet. Und außerdem freute sie sich auf ein Wiedersehen mit Bromwell und einen Spaziergang durch den romantisch beleuchteten Park.
Es wäre auch eine Zumutung, die anderen warten zu lassen, bis Lady Daphnes Equipage sie in Francescas Haus abgesetzt hatte. Also bemühte sie sich um ein Lächeln und nickte. „Sie haben recht. Wir sollten aufbrechen.“
Die vier Damen bestiegen Lady Swithingtons Kutsche, während die Herren eine Mietdroschke herbeiwinkten. Callies Zweifel schwanden während der Fahrt. Die Unterhaltung zwischen den Damen verlief angenehm, mit jeder Minute stieg Callies Selbstvertrauen und ihre Vorfreude auf den Vergnügungspark und das Wiedersehen mit Bromwell stellte sich wieder ein.
Als sie dem Wagen entstieg, hatten sich Callies Bedenken verflüchtigt. Vauxhall übte wie eh und je einen magischen Reiz aus. Die Herren besorgten die Eintrittskarten und reservierten eine Loge an der Hauptpromenade.
Die Gruppe schlenderte die breiten Kiesallee entlang zu ihrer Loge nahe des Pavillons, wo das Orchester bald zum Tanz aufspielen würde. Man nahm die Plätze ein und beobachtete die flanierenden Parkbesucher. Callie fühlte sich in ihrem Dominokostüm und der Maske unbeschwert und frei, konnte zwanglos die Passanten beobachten in der Gewissheit, dass niemand sie erkannte und sie nicht befürchten musste, dass irgendein Wichtigtuer ihrer Großmutter berichtete, sie gesehen zu haben.
Ein Diener servierte hauchdünn geschnittene Schinkenscheiben, gebratene Hühnerschenkel nebst diversen Salaten und schenkte aus einer großen Karaffe Arrakpunsch ein, der in Vauxhall Gardens gerne getrunken wurde, ein ziemlich starkes süßes Gebräu, an dem Callie anfangs nur nippte. Aber bald verlor sie ihre Hemmungen und genoss das Vergnügen.
Es machte ihr großen Spaß, das bunte Gemisch der Flaneure aus allen Gesellschaftsschichten zu bestaunen. Darunter zahlreiche Herren, Dandys und Gentlemen, athletisch gebaute kräftige Männer und schmächtige junge Burschen. Es gab auch einige Frauen ohne Begleitung, die den Männern kokette Blicke zuwarfen. Callie beobachtete das Gedränge fasziniert und errötete über manch zotige Bemerkungen einiger Passanten.
Zu ihrem Erstaunen beäugten einige der jungen Stutzer sie und die anderen Damen in der Loge ziemlich unverfroren. Miss Swanson und Miss Turner kicherten unschicklich unter den dreisten Blicken. Lady Daphne kicherte zwar nicht, aber Callie sah zu ihrer Verblüffung, wie sie über ihren Fächer hinweg dem einen oder anderen flotten Burschen kokette Blicke zuwarf.
Callie erwartete eigentlich, dass ihre Begleiter die aufdringlichen Spaziergänger ihres Weges schickten. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Sinclair auf derlei Dreistigkeiten reagiert hätte. Wobei bereits die Anwesenheit ihres Bruders in der Loge genügt hätte, um die frechen Burschen daran zu hindern, den Damen anzügliche Blicke zuzuwerfen.
Im Musikpavillon begann das Orchester zu spielen, und vereinzelte Paar begaben sich auf die Tanzfläche. Höflichkeitshalber ließ Callie sich von Mr. Tilford zum Tanz bitten und anschließend von Mr. Pacewell – zumindest vermutete sie, dass es sich um Mr. Pacewell handelte –, der ihr allerdings mehrmals schmerzhaft auf die Zehen trat und dessen Atem abstoßend nach Alkohol roch, worauf sie beschloss, auf weitere Tänze zu verzichten, bis Bromwell eintraf … wenn er eintraf, woran sie mittlerweile zu zweifeln begann.
Auch Lord und Lady Radbourne waren noch nicht gekommen, und Callies Stimmung sank beträchtlich. Unterhaltung und Gelächter in der Loge wurden umso lauter, je mehr die Gäste dem starken Arrakpunsch zusprachen. Die Mädchen kicherten schriller, die Männer grölten vor Lachen, begannen mit schwerer Zunge zu sprechen und stellten ihre Gläser geräuschvoll ab. Einmal verfehlte Mr. Sackville oder vielleicht Mr. Pacewell – je betrunkener die Herren wurden, desto schwerer fiel es Callie, die beiden auseinanderzuhalten – die Tischplatte, sein Glas fiel zu Boden und zersplitterte in tausend Scherben. Alle außer Callie fanden dieses Missgeschick
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