Maskenball
an.
»Herbert hat nach dem Abitur in England studiert und lebt seither als Übersetzer dort. Wir sehen uns nicht oft. Aber das ist nicht weiter ungewöhnlich. Wir waren schon als Kinder nicht besonders eng miteinander. Herbert ist ein echter Eigenbrötler. Irgendwie passt er nach England. Wenn Sie wissen, was ich meine. Er war schon als Austauschschüler gerne auf der Insel. Für mich wäre das nichts. Ich bin lieber hier, oder in den Bergen.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?« Ecki hatte wieder sein Notizbuch gezückt.
»Warten Sie, das muss, ja, das war vor zwei, drei Jahren. Um Ostern herum. Ja, Ostern. Da fällt mir ein, er wollte dieses Jahr auch wieder zu Ostern kommen. Mein Gott, nun ist Vater tot. Ich muss ihn anrufen. Er muss zu Vaters Beerdigung kommen. Oh, Gott, hoffentlich finde ich Herberts Telefonnummer. Ich habe sie mir doch aufgeschrieben.«
Sie hatten sich schon verabschiedet und waren schon fast an ihrem Auto, als Hiltrud Claassen ihnen nachgelaufen kam. »Mir ist gerade etwas eingefallen. Mein Vater hat mir doch etwas erzählt. Aber das ist bestimmt unwichtig. Ich meine nur …«
»Kein Problem.« Frank ließ den Türgriff des Mondeos wieder los und sah die Frau freundlich an. »Was hat Ihr Vater Ihnen denn erzählt?«
»Ja, also, das muss so vor ungefähr zwei Wochen gewesen sein. Als ich ihn besucht habe, um seine Wäsche zu machen. Da hat er mir erzählt, er sei in der Nacht von merkwürdigen Geräuschen geweckt worden.«
»Von Geräuschen?«
»Ja, so ein Klopfen. Ein merkwürdiges Klopfen an seinem Schlafzimmerfenster. Zuerst hatte er gedacht, er habe nur geträumt. Aber dann ist er wach geworden und ans Fenster gegangen. Und als er die Rollladen ein Stück hochgezogen hat, in dem Augenblick hat es geblitzt.«
»Erst das Klopfen und dann ein Blitz?«
»So hat er es mir erzählt. Es muss das Blitzlicht eines Fotoapparats gewesen sein, hat er gemeint. Und dass Kinder sich vermutlich einen Scherz erlaubt haben. Ich hatte es schon vergessen, weil er danach nicht mehr davon gesprochen hat. Ist das wichtig?«
»Keine Ahnung, Frau Claassen, das kann ich jetzt noch nicht beurteilen. Vielleicht waren es Kinder, vielleicht war es ein Betrunkener auf dem Rückweg von einer Party. Wer weiß. Ich habe es mir auf jeden Fall notiert.« Ecki klappte sein Notizbuch zu. »Sind Sie in den kommenden Tagen zu erreichen? Wir müssen uns die Wohnung ihres Vaters ansehen. Möglicherweise finden wir dort Hinweise, die uns weiterhelfen.«
»Wo soll ich schon hin? Ich muss doch zu Hause sein und alles regeln. Außerdem habe ich einen Anrufbeantworter.« Verhoevens Tochter wirkte mit einem Mal wie ein kleines Mädchen, das Angst davor hatte, alleine gelassen zu werden.
»Soll ich Ihnen einen Arzt vorbei schicken?« Frank machte sich Sorgen um Hiltrud Claassen.
»Nein, danke, es wird schon gehen. Ich rufe nachher eine Freundin an.«
»Wir melden uns bei Ihnen, alles Gute bis dahin.«
Sicher ein schwacher Trost, dachte Frank, als er und Ecki ins Auto stiegen und Hiltrud Claassen im Wegfahren grüßten. Im Rückspiegel konnte Frank sehen, dass sie ihnen von der Mitte der Straße aus noch länger nachsah, die Arme wegen der Kälte vor ihrem Oberkörper verschränkt.
»Was meinst du?« Ecki lehnte sich auf dem Weg zur Autobahn in seinem Beifahrersitz zurück.
»Wir müssen uns spätestens morgen unbedingt Verhoevens Wohnung ansehen. Außerdem müssen wir nachhaken, wo dieser Oberarzt steckt, von dem Dr. Hübgens erzählt hat.«
»Siehst du eine Verbindung zu dem Mord an Verhoeven?«
»Keine Ahnung. Aber das gibt es doch zur Genüge: Arzt oder Pfleger bringt Patient um, weil er überfordert ist, weil sie Streit bekommen haben, weil beide ein Geheimnis hatten. Wäre doch nicht das erste Mal. Hinter vorsätzlichem Mord stecken immer auch Heimtücke, niedere Beweggründe und Gier.«
»Ja, schon, aber tötet ein Arzt einen seiner Patienten auf diese brutale Weise und verschwindet dann, um am Meer von seinem stressigen Job auszuspannen? Nein, das glaube ich nicht. Außerdem haben Mediziner in aller Regel andere Methoden, einen Menschen umzubringen.
»Du magst recht haben. Das Tatbild passt nicht unbedingt auf einen Mediziner im weißen Kittel. Aber weiß mans?«
»Was denkst du?«
»Verhoeven war doch Lehrer. Wie oft hast du dir schon gewünscht, du könntest deinen Lehrer für deine schlechten Noten verantwortlich machen und ihm den Hals umdrehen? Der Täter könnte doch über die Jahre einen
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