Maskenspiel
mehr außerhalb der Uni, stimmts?«
»Ja«, sagte Fria tonlos.
»Haben Sie Freunde, Frau Burgwart?«
»Ja!«
Aggressiv sah Fria Katinka an.
»Und kein Alibi für Mittwochabend?«
»Nein«, rief Fria. »Ich muss arbeiten. Ich habe einen Vortrag zu halten. Sie mögen nicht wissen, wie viel Energie und Zeit man hineinstecken muss, aber ich weiß das sehr gut. Ich arbeite seit Wochen daran. Ich möchte neue Ergebnisse vorweisen. Ich habe mich monatelang in die Geschichte verkrochen. Dabei …«
Katinka verbot sich das Grinsen, das sich in ihrem Gesicht anbahnte. In die Geschichte verkrochen zu sein, war ein Zustand, den sie zur Genüge kannte.
»Haben Sie ein Tagungsprogramm da?«, fragte sie neugierig.
Fria, die sich jäh unterbrochen fühlte, verteilte mit der flachen Hand einige Papiere auf der Schreibtischplatte und fischte dann ein gelbes Faltblatt hervor.
»Bitte!«
Die Vorderseite sah aus wie eine kleinformatige Ausgabe des Plakates, das Katinka vor wenigen Tagen in der Uni gesehen hatte. Sie blätterte es auf.
»Das sind ja anderthalb Tage volles Programm!«, rief sie. »Und schon in einer Woche!«
»Sehen Sie, dass ich jetzt wirklich weiterarbeiten muss?«
» Französisch und Spanisch – ein gemeinromanisches Bewusstsein im 15. Jahrhundert «, las Katinka laut vor, »das ist Ihr Thema?«
»Allerdings.« Fria nickte enthusiastisch.
»Sehr interessant«, sagte Katinka und meinte es ehrlich. »Kann man denn davon ausgehen, dass die Leute damals tatsächlich ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit hatten? Ich meine, Franzosen und Spanier, die gab es doch gar nicht als homogene Gruppen, oder?«
»Nein, natürlich nicht, aber ich habe historische Quellen gefunden, die darüber berichten, wie Pilger mit Anderssprachigen in Kontakt kamen. Die Leute früher haben durchaus über sich und die anderen nachgedacht. Die waren auch nicht blöder als wir.«
»Was für Quellen?«, fragte Katinka neugierig. Die Historikerin wurde aus ihrem Schlummer geweckt.
»Kommen Sie doch zu dem Vortrag«, schlug Fria ungeduldig vor. Verstohlen warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Das mache ich«, versprach Katinka. »Darf ich das Programm mitnehmen?«
»Klar«, sagte Fria und ging schon voraus zur Tür.
»Sie sprechen ja direkt nach Carsten Stielke«, sagte Katinka, die Nase wieder in dem kleinen Faltblatt. »Übrigens: Sind die Quellen auf der Diskette verzeichnet, die Stielke vermisst?«
Fria starrte Katinka mit unverhohlener Wut an.
»Lassen Sie mich in Ruhe, o.k.?«
»Die Polizei wird bei einer Hausdurchsuchung herausfinden, was zu finden ist«, sagte Katinka lächelnd. Es war ein schlechter Bluff, und sie wusste es. Fria hatte, war sie die Diskettendiebin, längst die Dateien von Carsten kopiert und in ihre eigenen Daten integriert. Dennoch schien es ihr gelungen, Fria nervös zu machen. Sie war ganz weiß im Gesicht und zupfte an ihrem T-Shirt herum.
Katinka verabschiedete sich und trat hinaus in den Nachmittag. Als e rstes nahm sie Toms Trekkingrad genau unter die Lupe, aber es schien völlig in Ordnung. Sie trug das Fahrrad die Stufen zum Eisernen Tor hoch und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Wenn Fria tatsächlich Stielkes Diskette genommen hatte, und nun dessen Ergebnisse in ihre einarbeitete, wenn Stielke wirklich keine Sicherheitskopien hatte, dann würde Fria die Plagiierung schwer nachzuweisen sein. Stielke konnte noch so sehr beteuern, dass die Gedanken, die sie präsentierte, seine waren – wie sollte er es belegen?
Damit war allerdings auch Katinkas vorheriger Verdacht, dass Fria der Diebstahl der Diskette nur in die Schuhe geschoben werden sollte, entwertet: Womöglich war der Fall gar nicht so kompliziert, und niemand hatte eine Verschwörung gegen Fria geplant, Laubachs Leute waren zwar eigensinnige, kauzige Klugscheißer, aber keine Verbrecher.
Was ist mit den gelöschten und überspielten Dateien, meldete sich die Kontrollwespe. Gehen die auch auf Frias Konto?
Katinka lehnte sich gegen die Mauer und ließ den Blick über den Ostflügel der Residenz schweifen. Die unscheinbare Gedenktafel erinnerte an einen anderen ungelösten Todesfall, der allerdings schon fast 200 Jahre zurücklag. Alexandre Berthier, ein Getreuer Napoleons, hatte sich am 1. Juni 1815 aus Verzweiflung und seelischer Zerrissenheit aus dem obersten Stockwerk auf die Straße gestürzt. Aufgrund der politischen Umstände war es ihm nicht mehr möglich gewesen, sich auf die Seite Bonapartes zu schlagen, nachdem
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