Maskerade der Liebe
entfernt stand eine Dirne unter einer Straßenlaterne und wartete auf einen Freier, ehe die Sonne ganz dem Schatten wich.
Obgleich er privilegiert und im Wohlstand aufgewachsen war, hatte er viele solche Bilder gesehen, vor allem seit seine reformbegeisterte Stiefmutter seinen Vater geheiratet hatte. Manchmal verspürte er sogar ein Schuldgefühl, dass er solch einem entbehrungsreichen Dasein entkommen war. So sollte eigentlich jeder empfinden, der dieses Glück gehabt hatte und nicht nach mehr verlangen.
Ja, Liebe war ein Luxus, mehr als Emily - Lady Emma -je wissen konnte. Bevor Nesfield und Lady Dundee sie teuer eingekleidet und zur Schau gestellt hatten, war sie noch nie aus ihrer ländlichen Umgebung herausgekommen. Was wusste sie schon von der unbeständigen Natur der Liebe und der Tatsache, dass manche Menschen Versprechen brachen, ohne dabei Reue zu empfinden?
Er ballte seine Hände zu Fäusten. Sie war wie ein Rehkitz im Wald, das völlig ahnungslos war. Vermutlich glaubte sie, alles sagen zu dürfen, was ihr gerade einfiel, nur weil sie Satinkleider trug und redegewandt war.
Nun, da irrte sie sich eben. Ein solches Benehmen würde bei übel gesinnten Leuten große Aufmerksamkeit erregen. Wenn sie nicht aufpasste, würden die Männer sie wie ein leichtes Mädchen behandeln.
Eine Lady Emma würde wahrscheinlich durch einen Glücksjäger in eine kompromittierende Lage gebracht werden. Und wenn sie doch die verkleidete Emily war? Er blickte grimmig vor sich hin. Nesfield würde ihr niemals helfen, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Was er im Schilde führte, wusste Jordan nicht, aber er hatte diese Verkleidung nicht gewählt, um Emily zu helfen. Er würde sie nur benutzen und sie dann fallen lassen, wenn er sie nicht mehr brauchte. Was immer sie vorhatte - es würde scheitern.
Endlich waren sie bei „Brook's“ angekommen. Er stieg aus und eilte hinein. „Brook's“ war der beliebteste Club der Whig-Partei und fast genauso alt wie „White's“, der Club auf der Straßenseite gegenüber, wo vor allem Mitglieder der Tory-Partei verkehrten. Die gesetzte Atmosphäre und das schwerfällige Ambiente beruhigten ihn gewöhnlich sofort.
Doch heute war das nicht der Fall. Er verstand das nicht. Inmitten seiner vernünftigen Bekannten sollte er doch eigentlich in der Lage sein, sich zu entspannen. Es war keine von Lady Astramonts geschwätzigen Frauen da, die einem mit ihrem Gerede über Feen und romantische Gefühle auf die Nerven ging.
Aber es gab auch keine Lady Emma. Sie war bestimmt noch immer beim Frühstück - mit Pollock. Er war derjenige, der sie wie zufällig berühren, ihren Lavendelduft riechen und ihre melodische Stimme hören konnte. Zum Teufel mit ihm! Zum Teufel mit ihr! Wie konnte sie es wagen, Pollock zu wählen? Natürlich wollte sie damit Jordans Fragen ausweichen. Aber ganz gleich, ob sie nun Lady Emma oder Emily war - niemand hatte das Recht auf sie außer ihm. Wenn er das nächste Mal Pollock traf, würde er ihm das zu verstehen geben.
Der Diener nahm seinen Mantel entgegen und teilte ihm mit, dass Lord St. Clair im Lesezimmer auf ihn wartete. Jordan fluchte leise. Er hatte die Vereinbarung mit Ian ganz vergessen.
Als er eintrat, reizte der dichte Tabakrauch ihn zum Husten. Endlich entdeckte er den Viscount in einer Ecke. Ian hatte es sich in einem Stuhl unter einem Wandleuchter mit einer Pfeife in der einen Hand und seiner Taschenuhr in der anderen bequem gemacht. Er sah auf und erblickte Jordan. Betont lässig klopfte er auf seine Uhr.
Jordan ließ sich im Sessel ihm gegenüber nieder und sagte: „Ich bin jetzt hier, Ian. Du kannst die Uhr wegstecken.“
Schmunzelnd ließ Ian den Deckel zuschnappen und steckte die Uhr ein. „Das ist jetzt das zweite Mal, Jordan. Da du dich vorher nie verspätet hast, nehme ich an, dass es sich um einen frühen Anfall von Altersschwäche handelt. Wenn du nicht aufpasst, wirst du schon bald mit ungeschnürten Stiefeln daherkommen und mit dir selbst sprechen.“
„Sehr lustig. Gestern Abend war Pollock schuld, und heute habe ich es einfach vergessen. Das passiert sogar mir. Ich bin in letzter Zeit sehr beschäftigt.“
„Vielleicht mit Lady Emma?“ Als Jordan ihn finster anschaute, fügte er hinzu: „Du hattest vor, zu Lady Astramonts Frühstück zu gehen, aber ich habe dir nicht geglaubt. Du findest sie genauso nervenaufreibend wie ich.“
Jordan nahm einen Stumpen aus der goldenen Dose, die auf dem Tisch zwischen ihnen stand und wo sich
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