Massiv: Solange mein Herz schlägt
sie mir auf, die Zeichen der Straße: Unter den hellen Augen hatten sich tiefe Schatten gebildet, die entweder auf zu viele Partynächte oder zu lange Knastaufenthalte – vielleicht auch auf beides – hindeuteten. Sie ließen ihn nicht alt, sondern wie einen gestandenen Lebemann wirken, der sich noch von der letzten Nacht erholen musste, die aus zu wenig Schlaf, zu viel Rotwein und mindestens einer Frau bestanden hatte. Seine rechte Gesichtshälfte war von einer markanten Narbe durchzogen, die ihm den legendären Straßenlook verpasste; wahrscheinlich hatte er sie sich bei einem Kampf geholt, und nun war dieses Mal ein durchaus wirkungsvoller Magnet für Frauen, die auf gefallene Antihelden standen. Er hatte einen misstrauischen und distanzierten Blick auf andere, vielleicht das Resultat einer Enttäuschung, möglicherweise durch einen Freund, der sich im Laufe der Jahre als Feind entpuppt hatte. Er war mit Mehmet gekommen, einem Dealer und Läufer, der diesen Haufen mit einer Menge an Drogen versorgte, die für ein Dutzend sowjetischer Soldaten während des Afghanistankrieges gereicht hätte.
Da er weder wie ein Läufer noch wie jemand, der Drogen konsumierte, aussah, konnte man sich seine Funktion in diesem Spiel durchaus denken. Manchmal ließ sich eben viel erkennen, wenn man genauer hinsah. Nach der dritten Zigarette hatte er entweder von MC Basstards Gequatsche oder meinem Rapgesang genug und kam auf mich zu. Als er direkt vor mir stand, fiel mir sofort auf, dass er von Gott ein unglaubliches Geschenk erhalten hatte: Seine Aura leuchtete. Er streckte mir die Hand entgegen und stellte sich vor. Wir reichten uns die Hände, und eine Welle des Vertrauens durchströmte mich. Es war, als hätte ich nach jahrelanger Suche einen verschollenen Bruder wiedergefunden.
Was würde wohl als Nächstes geschehen, fragte ich mich. Während wir warteten, herrschte ein betretenes Schweigen, was sollten der Plakatreißer und ich uns auch schon erzählen? Er hatte eine dicke Lippe riskiert und steckte in einem Dilemma. Er war sich im Klaren darüber, dass ihm nichts Gutes drohte. Würde er aber davonlaufen, wäre er am nächsten Morgen als Feigling stadtbekannt. Wer sich wie im Wilden Westen aufführte, konnte nicht einfach weglaufen. Er hatte gehofft, der Anblick seiner Waffe würde reichen, um seine Macht zu demonstrieren, doch damit hatte er falschgelegen. Und da ist das Problem: Eine Waffe zu besitzen ist einfach, sie zu benutzen fordert einem weitaus mehr ab.
Nach einigen Minuten kam Ashraf seelenruhig zurück, als mache er gerade einen Sonntagsspaziergang. Der Plakatreißer kniff die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. Plötzlich weiteten sich seine Pupillen, seine Unterlippe zitterte, sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Er wurde unruhig, wippte hin und her, seine Augen pendelten abwechselnd nach rechts und links. Was hatte er wohl gesehen, überlegte ich. Ich schaute nach rechts, das Licht blendete mich – aus irgendeinem Grund war die Sonne immer auf Ashrafs Seite. Ich musste genauer hinsehen, um die Reflexionen eines langen, stabähnlichen Gegenstandes, der immer wieder in der Lichtflut niederging, zu erkennen.
Der Plakatreißer stand regungslos da, nur seine Lippen zuckten. Ashraf, der nur noch wenige Meter von uns entfernt war, hob seinen Arm. Ich hätte einiges erwartet: ein Taschen- oder Küchenmesser, vielleicht sogar eine Pistole, doch ich traute meinen Augen nicht, als ich das lange Schwert sah, eines von der Sorte, mit denen sich in den Samurai-Filmen die Kämpfer gegenseitig die Köpfe abtrennen. Klar, was sonst, dachte ich mir, hätte mich gewundert, wenn er mit einer Friedenspfeife zurückgekommen wäre. Als er das Schwert mit beiden Händen in die Höhe hielt, erinnerte er mich an genau so einen Samurai aus den alten japanischen Filmen. Da stand ich nun: links eine Knarre, rechts ein Samurai-Schwert – so viel Wirbel um ein Plakat.
»Du drohst mir, ja?«, stellte Ashraf noch einmal nickend fest und kam mit langsamen, aber bestimmten Schritten auf uns zu. Er hatte seine Worte gekonnt bedrohlich ausgesprochen, ohne dabei wütend oder aufgeregt zu wirken. In diesem Moment erinnerte er mich an meinen Anwalt, der die Kunst der Wiederholung vor Gericht verwendet hatte, um seinem Standpunkt mehr Nachdruck zu verleihen. Einen kurzen Moment überlegte ich, was für einen fabelhaften Anwalt Ashraf abgegeben hätte, wenn nicht andere Dinge dazwischengekommen wären. Ich stellte ihn mir
Weitere Kostenlose Bücher