Massiv: Solange mein Herz schlägt
eine eigene Kultur mit eigenen Gesetzen. Ich merkte schnell, dass meine kriminelle Laufbahn als Jugendlicher harmlos gegen das war, was sich in den Kreisen solcher Familien auftat. Hier hatten sich Familienclans über Generationen hinweg ein Netzwerk aufgebaut, das Ähnlichkeit mit dem der sizilianischen Mafia hat. Sie leben in einer eigenen Untergrundwelt, die teilweise von Drogengeldern und Schutzgelderpressungen finanziert wird. Deshalb sind sie in der Gesellschaft genauso beliebt wie eine Heuschreckenplage, trotzdem machen Justiz und Polizei einen großen Bogen um die kriminellen Clans, die teilweise aus achthundert Mitgliedern bestehen.
Es war wie mit der Beseitigung eines Wespennests: Bei einem falschen Schritt konnte man von hundert wütenden Stechern angegriffen werden. Zwielichtige Gestalten meldeten sich bei mir und boten mir an, mich zu managen. Männer und Jugendliche, die keine Ahnung von Musik hatten, wollten mit mir kooperieren. Wenn ich nicht kooperieren wollte, wurde ich bedroht und angegriffen. Jeder wollte mir helfen, doch wenn ich mir nicht helfen lassen wollte, rächten sie sich auf ihre ganz eigene Art für meine Ablehnung. Mehrere Male kam es zu Übergriffen. Einmal war ich gerade beim Essen in einer Burger-Bude, als mich jemand von hinten attackierte. Ehe ich mich umdrehen konnte, spürte ich schon die Klinge am Hals.
»Wir haben dir doch gesagt, dass du Schutz brauchst.« Die Angestellte schrie, und die Angreifer flüchteten. Das war exemplarisch für meine Lage: Ich brauchte Schutz vor denen, die mir zuvor Schutz angeboten hatten. Ein anderes Mal brachte ich gerade den Müll raus, als sich eine Gruppe Jugendlicher aus dem Wedding um mich herum versammelte.
»Na, da ist ja unser Gangster-Rapper aus’m Wedding«, quäkte ein langhaariger Knabe aus der Gruppe.
»Ja, ganz hart mit seinen Tattoos und Muskeln«, rief ein anderer.
»Was wollt ihr?«, zischte ich in mittlerweile gewohnt aggressiver Manier.
»Wir sind aus’m Wedding, wir leben hier im Dreck, und dann kommt so ein Wichser wie du und macht einen auf harter Kanake«, beschwerte sich der Langhaarige.
»Halts Maul!«, gab ich zurück und warf mit dem Müllbeutel nach ihnen. Ich war diese ewigen Diskussionen leid. Berliner, Nicht-Berliner, Weddinger, Nicht-Weddinger – wie konnten sich Menschen über so einen Unsinn den Kopf zerbrechen? Ich war nach Berlin gekommen, um Musik zu machen, für pubertierende Kleinkriminelle fehlten mir Zeit und Nerven. Sie wichen zurück, alte Bananen und Essensreste verteilten sich vor ihren Füßen. Der Junge, der eine goldene Korankette um den Hals trug und mit der Bomberjacke aussah wie ein Bilderbuch-Kanake, machte eine theatralische Geste.
»Riecht ihr das?«, fragte er seine Clique. Alle nickten.
»Wonach riecht das?« Er machte eine ausladende Handbewegung, wedelte die Luft in die Richtung seiner Kumpane und grinste überheblich. Auch solche Theateraufführungen war ich schon gewohnt. Seine Freunde sahen ihn fragend an.
»Nach Müll«, antwortete einer, der einen riesigen eitrigen Pickel auf der Nase hatte. Die Dämpfe von abgestandenem Konservenessen krochen mir die Nase hoch.
»Nein, das ist Geld – er stinkt nach Geld.« Keiner wusste, wovon er redete.
»Unser Möchtegern-Weddinger verdient sein Geld mit Musik über den Wedding, und davon sollte er den richtigen Weddingern etwas abgeben.«
»Halts Maul!«, brüllte ich noch einmal. Ich dachte an die unbezahlten Rechnungen und die fällige Miete, zeigte der Gruppe den Stinkefinger und ging. Meistens blieb es bei Provokationen oder Androhungen, und wenn ich keine Furcht zeigte, hauten die Gruppen genauso schnell wieder ab, wie sie gekommen waren. Bellende Hunde beißen für gewöhnlich ja nicht. Ich ließ mich nicht unterkriegen, redete mir ein, mein Ding irgendwie durchzuziehen, doch eines Vormittags sollte sich meine Denkweise radikal ändern. Ich lag noch im Bett und hörte, wie sich meine Mutter auf Arabisch mit einem Mann unterhielt. Erst als meine Mutter »Sie sollten jetzt gehen« sagte, wurde ich hellhörig. Ruckartig stand ich auf und verließ mein Zimmer, um nach dem Rechten zu schauen, doch es war niemand mehr da. Meine Mutter schob hastig den Riegel vor die Tür, und als sie sich umdrehte, war sie kreidebleich.
»Wer war das?«, fragte ich.
»Niemand«, stammelte sie. Es kam nicht oft vor, dass die Stimme meiner Mutter zitterte – ihr machte niemand so schnell Angst.
»Mama, wer war das an der Tür?« Ich rieb die
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