Massiv: Solange mein Herz schlägt
siebenundzwanzig Jahren.
»Ja, sehr schwer.«
»Wie viel fehlt dir noch?«, fragte Baba.
»2000 Euro.« Ich schaute auf die schief aufgemalte Tabelle in meinem Notizblock. Mein Vater stand auf und verließ das Zimmer. Kurz darauf kam er wieder und reichte mir ein Bündel Geldscheine.
»Schlimmer kann es sowieso nicht mehr kommen. Hier hast du wenigstens ehrlich verdientes Geld, vielleicht bringt es dir ja Glück.« Baba hatte recht, schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Ich hatte meine Familie dazu gedrängt, ihre Existenz aufzugeben, sie nach Berlin geholt, noch dazu steckte ich gerade nicht nur mein Erspartes und letztes Paar Turnschuhe in ein ungewisses Projekt, sondern auch noch das Ersparte meines Vaters. Ja, schlimmer konnte es wirklich nicht mehr kommen – dachte ich. Drei Tage später holte mich Kubilay ab. Ich hatte die Idee, meine ersten Fans im Video zu präsentieren und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, Massiv kennenzulernen. Ich ließ tausend Sticker und Flyer mit meinen schattenhaften Umrissen und der Aufschrift »Massiv kommt« sowie Datum und Uhrzeit drucken. Ich hoffte, einige Jugendliche würden zum Videodreh kommen, und erwartete nicht allzu viel. Zusammen mit Kubilay beklebte ich Säulen und Bahnsteige. Währenddessen erzählte ich ihm von meiner Kindheit und Jugend in Pirmasens und der Stimme, die mich nach Berlin gebracht hatte. Kubilay lachte und schüttelte den Kopf.
»Über dein Leben sollte jemand ein Buch schreiben.«
»Unsinn.«
»Und danach sollte jemand einen Film über dich machen.«
»Unsinn«, meinte ich, freute mich aber insgeheim, jemanden gefunden zu haben, der so sehr an mich glaubte. Am vierten Tag des Videodrehs kam ich, wie auf den Flyern und Stickern angekündigt, zum Leopoldplatz.
Ich rechnete mit fünfzig, höchstens hundert Jugendlichen, doch mein Herz setzte aus, als ungefähr 2500 kreischende Jungen und Mädchen dort standen und auf Massiv warteten. Dabei war mein Song kein einziges Mal im Radio oder auf MTV gelaufen. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, schnaubte, rieb meine Augen – das konnte nicht real sein. Als sie mich sahen, kreischten die Jugendlichen, riefen »Massiv!«, und ich konnte es nicht fassen, dass sie alle meinetwegen gekommen waren. Vor kurzer Zeit war ich noch Wasiem Taha – ein Niemand –, und plötzlich gab es haufenweise Jugendliche, die mich kennenlernen wollten. Es war ein unbeschreibliches Gefühl – so musste es sich anfühlen, ein Jemand zu sein. Am sechsten Tag war das Video im Kasten, und der Rest ist Geschichte.
KAPITEL 15
Ashraf Rammo
Er hat ein Löwenherz, kämpft wie Saladin!
Kannst du seinen Herzschlag spüren? Hörst du den Puls Berlins!
Glaub mir, seine Waffe lässt er niemals aus der Hand los,
Ashraf Rammo Berlins Marlon Brando.
Massiv, Auszug aus »Ashraf Rammo«
Ich klemmte mir die restlichen Plakate zwischen Arm und Brust, drückte gegen die Tür, obwohl »Ziehen« draufstand, einige Poster lösten sich aus dem Packen und glitten in kreisenden Bewegungen, wie von Bäumen herabfallende Herbstblätter, auf den farblosen Boden der Ladenfläche. Ich bückte mich, hob die Plakate auf, auf denen ich in gewohnt kämpferischer Haltung zu sehen war, darunter stand das Datum meines ersten Konzertes in der Universal Hall Moabit. Wir verließen das Reisebüro, das Pilgerfahrten nach Mekka anbot, und spazierten die Hermannstraße weiter runter. Auch in Neukölln offenbarte sich ein anderes Bild der schillernden Weltmetropole: Verwahrlosung, Armut und Subkultur in dem vergessenen Randbezirk Berlins. Die Geschäfte lockten mit heruntergesetzten Angeboten und Rabattschildern – hier konnte nur Günstiges an den Mann gebracht werden. Jeder Vierte arbeitslos, jeder Dritte Sozialhilfeempfänger, Nutten aus dem Ostblock, heruntergekommene Häuserfassaden, diverse, von der Herkunft bestimmte Cliquen: Schwierigkeiten im Problemkiez, die auf der Hand lagen, aber keiner anpacken wollte. Auf der anderen Straßenseite standen drei Jugendliche mit ihren maulkorbtragenden Kampfhunden, sie kifften auf offener Straße, als seien sie in Amsterdam, und der Wind verteilte den Geruch von brennendem Marihuana über das Viertel. Wir passierten ein Shisha-Café, kurdische und arabische Männer saßen draußen und rauchten Wasserpfeifen, wir blieben stehen, Ashraf grüßte den Besitzer und führte einen belanglosen Small Talk mit ihm.
Der süße Duft von rauchigem Erdbeer- und Apfelgeschmack stieg mir in die Nase, und ich
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