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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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passiert.« Ashraf sah den Unbekannten mit einer Mischung aus Spott und Mitgefühl an, als wäre er ein Kind, das nicht wusste, was es tat.
    »Das ist mein Ernst! Wenn ihr euch nicht verpisst, werdet ihr es bereuen!«, brüllte er, hob sein Shirt an und entblößte eine in Folie verpackte Pistole, die in seinem Bund steckte. Ich sah erst die Pistole, dann Ashraf an. Jede Freundlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen, in seinen wasserblauen Augen fand man nur noch diesen kalten Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
    »Du drohst mir?«, fragte Ashraf und ging, ohne eine Reaktion abzuwarten. Ich war hin- und hergerissen, wusste nicht, ob ich mit Ashraf gehen oder bleiben sollte. Als würde er meine Gedanken lesen, drehte er sich kurz um: »Warte hier.« Der Plakatreißer schaute mich irritiert an, zuckte mit den Schultern, und Ashraf ging mit großen Schritten in Richtung seines Autos. Er drehte sich kein einziges Mal um, vielleicht würde der Unbekannte seine Waffe ziehen und ihm in den Rücken schießen, doch das kümmerte ihn nicht. Ein normaler Mensch hätte bei dem Anblick einer Waffe Angst bekommen. Ein normaler Mensch hätte sich gesagt: »Ach, das ist doch bloß ein Plakat, für ein Plakat lohnt es sich nicht zu sterben«, doch genau das war der Unterschied zwischen Ashraf und einem normalen Menschen: Er war alles außer normal.
    Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich ihn kennengelernt hatte. Er spazierte in einem farbenfrohen, bis zur Brust aufgeknöpften Hawaiihemd in MC Basstards Studio und stellte sich an die einzige helle Stelle in dem dunklen Trauerloch. Ein goldgelber Strahl der untergehenden Sonne Berlins bahnte sich durch dreckige, nikotingetränkte Gardinen seinen Weg und beleuchtete ihn von oben wie ein Spotlight. Das Licht erhellte seine rechte Gesichtshälfte und verlieh ihm etwas Magisches, fast Heroisches. Ein filmreifer Auftritt, dachte ich mir und fragte mich gleichzeitig, ob das Absicht gewesen war. Andererseits gab es in dieser kleinen Bude weder schöne Frauen noch sonderlich wichtige Menschen, vor denen man sich hätte ins rechte Licht rücken müssen. Hier saßen nur einige Primaten auf einer verlausten Couch, die MC Basstard entweder vom Sperrmüll geholt oder von einem Vormieter übernommen hatte, der höchstwahrscheinlich auf dieser Couch auch gestorben war. Vor wem sollte man sich da schon wichtig machen? Respekt bekam man hier nur, wenn man den Pizzaboten bezahlte oder Gras mitbrachte. Manchmal reichte auch schon etwas Pot, so lange mit Minze, Koriander und anderen Gewürzen, die man in Mamas Kräuterschrank so finden konnte, gestreckt, bis man dachte, ein arabisches Gericht zu rauchen.
    Der Mann hatte braune Haare, sonnengebräunte Haut und wirkte in diese Kulisse gescheiterter Existenzen wie eine Perserkatze im Rattenkäfig. Er zündete sich eine Zigarette an, und mit der herunterhängenden Kippe zwischen dem Mundwinkel sah er aus wie ein James Dean des 21. Jahrhunderts. Unweigerlich fragte ich mich, was er hier verloren hatte, in diesem nach billigem Haschisch und unerfüllten Träumen riechenden Raum voller Möchtegern-Rapper und Möchtegern-Produzenten, die sich unter dem Vorwand trafen, Musik zu machen, stattdessen aber zudröhnten und meinten, allein mit ihren Fantasien die Welt erobern zu können. Er sah nicht aus wie jemand, der sein Leben mit zwecklosem Nichtstun verbrachte und in Kreisen verkehrte, in denen Spaghetti mit der Hand gegessen wurden.
    Nein, er sah aus wie jemand, der an einem Tisch die Hummergabel vom restlichen Besteck unterscheiden und gescheite Konversationen führen konnte. Doch im Laufe der Jahre hatte ich ein Gespür für Menschen bekommen und gelernt, zwischen dem, was man sieht, und dem, was man sehen kann, zu unterscheiden. Dieser Mann, der so gar nicht nach Ghetto aussah, hatte die Aura eines Menschen, der von ganz unten kam. Aura. Jeder Mensch hat eine Aura, sie steckt in einem Blick, einer Geste, der Art und Weise zu lachen und kann durch kokettes Auftreten oder teure Kleidung höchstens kaschiert, nicht erzeugt werden. Die Aura ist eine Projektion unserer Persönlichkeit, sie kann stark oder schwach, gut oder schlecht wirken. In dem Wort Aura schwingt etwas Besonderes, fast Göttliches mit, wie ein Heiligenschein, der nur Auserwählte beleuchtet. Und doch haben wir alle eine Aura, auch wenn sie manchmal zu unserem Nachteil wirkt.
    Während der Unbekannte, lässig gegen die Wand gelehnt, rauchte und ich genauer hinsah, fielen

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