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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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überlegte, mich einen kurzen Moment hinzusetzen, um eine Shisha zu rauchen, doch Ashraf drückte seinem Gegenüber ein Poster in die Hand, mit der Bitte, es in seinem Laden aufzuhängen. Eigentlich ist »Bitte« nicht das richtige Wort; wenn er sagte: »Häng das hier auf«, war es eher eine Aufforderung. Ashraf bat ungern um Gefallen. Menschen um Gefallen zu bitten hatte meistens eine Vielzahl von Ausreden zur Folge. Solche Sätze begannen mit »Ich kann nicht, weil …« und endeten mit »Es tut mir leid«. Einer Aufforderung kamen sie schon eher nach. Auf eine Frage mit »Nein« zu antworten war legitim, eine Anweisung zu verweigern war hingegen eine Beleidigung, und Ashraf gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die man gerne beleidigte.
    Wir gingen ein ganzes Stück weiter, ein Mann in traditioneller Kleidung und Gebetsmütze auf dem kahlen Schädel kam uns entgegen, Ashraf grüßte ihn. Zwei dunkelhaarige Frauen in knappen Röcken gingen an uns vorbei und grüßten Ashraf. Ich war mittlerweile daran gewöhnt, an jeder Ecke einen Zwischenstopp machen zu müssen, weil er Gott und die Welt kannte und anscheinend jeder auf ein Gespräch mit ihm aus war. Wir blieben vor einem Handyshop stehen, nach Absprache mit dem Besitzer brachte ich dort mein Poster an. Eine Woge der Euphorie strömte durch meinen Körper, als ich mich selbst auf dem Bild sah. Erst vor zwei Monaten hatte ich einen Fuß in diese Stadt gesetzt, und nun war ich dabei, mein erstes Konzert zu geben, ich würde das erste Mal vor meinen Fans auftreten.
    Ich hatte mich bei einer Menge Freunden verschuldet und alles Wertvolle, was ich besaß, verkauft, um über die Runden zu kommen. Meine Familie lebte am Existenzminimum. Ich hielt meine Eltern hin, ließ sie nicht nach Arbeit suchen, schließlich hatte ich ihnen das große Geld versprochen und konnte es nicht mit meinem Ego vereinbaren, sie wieder in irgendeiner Fabrik schuften zu lassen. Ständig sagte ich, morgen würde das große Geld kommen, doch nun waren schon einige Monate um, und es war kein Geld in Sicht.
    Trotz der Geldsorgen war ich in diesem Moment stolz und glücklich, nach Berlin gekommen zu sein. Geld war nie der Beweggrund für meine Entscheidungen gewesen, trotzdem war es ein angenehmes Nebenprodukt, das ich gerade dringend gebrauchen konnte. Mittlerweile war ich derart pleite, dass Ashraf mein erstes Konzert finanzieren musste.
    Gerade als wir weiterziehen wollten, stellte sich ein junger Mann neben uns und begutachtete das Plakat am Fenster. Er war ein Stück größer als ich, schlank, hatte glattes braunes Haar und trug ein blaues Shirt. Er war dunkelhäutig, hatte dichte Augenbrauen und bewegte seinen Mund beim Kaugummikauen wie ein Dromedar aus der Wüste.    
    »Nettes Plakat«, sagte er und schmatzte. Er stemmte seine Hände in die Hüften und stellte sich breitbeinig hin. Nicht schon wieder, dachte ich – war es in Berlin überhaupt möglich einen Schritt zu tun, ohne von allen Seiten ein Bein gestellt zu bekommen? Mit einer einzigen Bewegung riss er das Plakat herunter, zerteilte es in der Mitte und schmiss es mir provokant vor die Füße. In diesem Moment fielen mir die Papierfetzen entlang der Straße auf. Er hatte tatsächlich jedes einzelne Poster abgerissen. Manchmal gaben sich Menschen mehr Mühe, das Leben anderer zu zerstören, als ihr eigenes in den Griff zu kriegen, ärgerte ich mich. Es war keine Überraschung, solche Zwischenfälle war ich unlängst gewohnt und versuchte, so gut es ging, sie zu ignorieren. Im Gegensatz zu mir war Ashraf nicht besonders gut im Ignorieren. Ehe ich etwas sagen konnte, kam er mir schon zuvor.
    »Wieso hast du das gemacht?« Ashraf lächelte. Sein Ton war gelassen, keine Anzeichen von Wut, sein Blick entspannt, keine Spur von Zorn. Zu gelassen angesichts der Tatsache, dass er die Plakate bezahlt hatte. Sein Gegenüber spuckte den Kaugummi auf den Bordstein, atmete ein und aus, als wäre er wegen der Mordswut im Bauch nicht imstande, einen Satz herauszubringen.
    »Das ist mein Revier. Ohne meine Erlaubnis dreht hier keiner ein Ding«, sagte er und machte dabei eine drohende Handbewegung. Ashraf hielt sich die Hand vor den Mund, aber seine typischen Laute, die er immer beim Lachen machte, drangen zwischen seinen Fingern hervor und ließen den Plakatreißer vor Wut schäumen.
    »Du hast drei Sekunden Zeit, das Plakat aufzuheben und es ordentlich zusammenzukleben, dann tun wir ausnahmsweise so, als sei dieser Zwischenfall nie

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