Massiv: Solange mein Herz schlägt
Dann musste ich schmunzeln, weil Mama gar nicht wie eine Frau aussah, die mit einer Kalaschnikow umgehen konnte. Als 1975 der Bürgerkrieg im Libanon ausbrach, wurde das Lager häufig angegriffen. Bei einem der Bombenangriffe explodierten die Fenster in der Hütte meines Großvaters, unzählige Splitter bohrten sich in sein Gesicht, doch Mama blieb ruhig, trotz Chaos, Blut und der Panik um sie herum. Sie zog jeden Splitter einzeln heraus, dabei war sie erst neun Jahre alt.
Mein Opa blieb auf einem Auge blind, dank Mama konnte zumindest das andere gerettet werden. Von da an nannte er Mama Hiam , die kleine Löwin, und erzählte im ganzen Lager stolz, dass Löwenblut durch Mamas Adern fließen würde und dass diejenigen, die das Löwen-Gen im Blut hatten, fähig wären, die Welt zu erobern. Es wunderte mich, wie unterschiedlich Baba und Mama waren, obwohl sie ein ähnliches Schicksal teilten. Armut, Krieg, Flüchtlingslager waren auch Synonyme für Mamas Vergangenheit, trotzdem schwärmte sie von ihrer Kindheit, als wäre sie in einem Palast mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund aufgewachsen. Manchmal geht es eben nicht darum, wie etwas ist, sondern wie man es nimmt. Am Ende jeder Geschichte über ihre Kindheit brach Mama in Tränen aus. Sie hatte große Sehnsucht nach ihrem Vater, ihrer Mutter, ihren Geschwistern und der Heimat, die sie nur vom Hörensagen kannte. Ich fragte mich, was das für ein Land sein mochte, um das sich Menschen seit Jahrzehnten stritten. Ich wollte das Herkunftsland meiner Eltern kennenlernen, ich wollte die Berge und Burgen sehen, ich wollte das wunderbare Gefühl erleben, eine Heimat zu haben. Wenn ich aber daran dachte, dass Abertausende Palästinenser seit über sechzig Jahren, vergessen vom Rest der Welt, abgeschrieben als menschlicher Abfall, unter erbärmlichen Bedingungen leben mussten, wurde ich wütend, wütend auf diese ungerechte Welt und die Menschen, die nur für sich lebten. Und weil Kinder immer höhere Ziele als Erwachsene haben, gelobte ich Palästina, nein, die ganze Welt zu verändern und in einen besseren Ort zu verwandeln. An erster Stelle wollte ich aber, dass Mama aufhörte zu weinen, also stellte ich mich aufrecht hin, denn Baba hatte gesagt, nur ein Mann, der aufrecht steht und lebt, würde Respekt verdienen.
»Mama, ich verspreche dir, ich werde nach Palästina gehen und das Land verändern«, verkündete ich mit stolz erhobenem Finger.
»Schätzchen, wie willst du etwas schaffen, woran Politiker schon seit Jahrzehnten scheitern?« Mama lächelte verschmitzt und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
»Ich weiß es nicht, aber ich schaffe es trotzdem.«
»Ich hoffe, ich erlebe den Tag, an dem mein Sohn in meine Heimat fährt, in der ich selbst noch nie war.« Mama nahm mich in den Arm.
»Warum solltest du es nicht erleben?«
»Na, ich lebe doch nicht ewig.«
»Stirbst du irgendwann?«
»Wir sterben alle irgendwann.«
»Wenn du stirbst, will ich auch sofort sterben.« Der Gedanke, Mama würde irgendwann nicht mehr da sein, jagte mir schreckliche Angst ein.
»Und wie willst du dann Palästina verändern?«
»Du darfst eben nicht sterben, Mama, sonst gibt es keine Hoffnung mehr.« Ich mochte diese Gedanken an Mamas Tod nicht, mir wurde ganz flau im Magen, und Mama merkte das wohl.
»Gut, wenn du aber nach Palästina gehst, musst du mir etwas versprechen«, sagte sie in einem heiteren Ton.
»Was?«
»Na, dass du mir was Schönes mitbringst, natürlich.«
»Was denn?«
»Den Duft, das Aussehen und die Stimme Palästinas.« Mama drückte ihren weichen Mund auf meine Wange, und ich atmete ihren Duft ein, der nach süßen Erdbeeren, Hefe und Mandelöl roch. »Mama, so etwas gibt es nicht.« Ich überlegte, wie ich einen Geruch oder gar eine Stimme einfangen konnte. So etwas war nicht möglich, Mama wollte mir wohl einen Streich spielen.
»Wenn du weißt, wonach du suchen musst, wirst du es auch finden.«
»Das schaffe ich nicht, Mama.«
»Merk dir eins, mein Junge«, Mama sah mich ernst an. »Du kannst alles schaffen.«
»Wie?«
»Das ist ein Rätsel, das nur du lösen kannst, mein Schatz.«
»Ich glaube nicht.« Ich seufzte.
» Ach, also kannst du mir das nicht versprechen?« Sie sah mich mit ihren gutmütigen Augen an. In diesem Augenblick hätte ich ihr die ganze Welt versprochen. »Ich verspreche es dir!«
KAPITEL 3
Der Rassist
Kind, ein Lebewesen, dem – kaum, dass es gelernt hat zu sprechen – sofort der Mund verboten
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