Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
Vom Netzwerk:
morgens eine Flasche Bier in der Hand und sang jeden Tag zusammen mit seinen Alkoholikerfreunden vor der Bank neben unserem Hauseingang laute Lieder. Wenn wir uns im Treppenhaus begegneten, grüßte er mich immer mit »Morgen, Wüstenratte« oder »Wie geht’s, kleiner Kameltreiber?«. Horst roch zwar merkwürdig und gab mir komische Kosenamen, aber ich mochte ihn, weil er mich mochte, immer gute Laune hatte, fröhliche Lieder sang und meistens einen guten Witz parat hatte. Er tätschelte oft meinen Kopf, schenkte mir einmal eine Packung Kaugummis und den Deckel einer Bierflasche, von dem er behauptete, es sei ein besonders wertvoller Bierdeckel. Einmal, als ich von der Schule nach Hause kam, saß er mit seinen Freunden auf der Bank und winkte mir zu.
    Ich winkte zurück. Er rief: »Komm mal her, du kleine Wüstenratte.« Ich ging hin, und seine Freunde grüßten mich alle mit »Na, du kleine Wüstenratte« und lachten. Ich lachte auch und meinte: »Na, ihr großen Alkoholiker«, und alle wurden still.
    »So etwas darfst du doch nicht sagen«, flüsterte mir Horst ins Ohr. Ich wollte wissen, warum ich die Wahrheit nicht aussprechen durfte. Er zischte: »Ruhe jetzt«, machte eine theatralische Bewegung, um die peinliche Situation zu überspielen, und rief laut in die Runde: »Seht ihn euch an, meinen braunen Freund – ist er nicht goldig?« Alle nickten und stimmten zu: »Ja, ein goldiger Junge, dein brauner Freund«, und ich war ganz stolz, weil mich alle für goldig hielten.
    »Wie war noch mal dein Name, mein Junge?« Horst nahm einen großen Schluck aus der grünen Flasche.
    »Wasiem.«
    »Wie?«
    »Sie können mich Wisam nennen – ist einfacher.« Ich hatte mich bereits daran gewöhnt, dass die meisten meinen Namen nicht richtig aussprechen konnten.
    » Bisam, wie die Bisamratte?«
    »Wisam!«
    »Wüsten- oder Bisamratte, ist doch alles dasselbe.« Alle lachten. Und ich lachte, weil man immer mitlachen sollte, wenn Erwachsene lachten. Dann beäugte er mich und meinte: »Du trägst ’ne Hose wie ’n Mädchen.« Ich schämte mich für Amanis Mädchenhosen. Doch Horst tätschelte meinen Kopf und sagte: »Nimm das und kauf dir eine anständige Hose.« Dann drückte er mir zehn Mark in die Hand. Seine Freunde riefen: »Spinnst du?« Er zischte wieder: »Ich mag die kleine Bisamratte halt!« Fassungslos, dass mir jemand gerade zehn Mark geschenkt hatte, bedankte ich mich und ging außer mir vor Freude zurück.
    An der Haustür stand Mama und fragte, was ich bei den Alkoholikern machte, und ich antwortete fröhlich, dass mir Horst gerade zehn Mark geschenkt hatte. Mama hob die Augenbrauen, Horst winkte und rief: »Tschüss, kleine Bisamratte«, und Mama fauchte: »Wie hat er dich grade genannt?« Dann riss sie mir die zehn Mark aus der Hand, rannte zu Horst und seinen Freunden, und ich ließ die Schultern hängen, weil das Glück nie lange auf meiner Seite war. Ich wusste, dass Mama Horst nicht ausstehen konnte, weil er furzte und rülpste, wenn sie mit ihren Einkaufstüten an ihm vorbeiging. Dann nannte sie ihn einen ungehobelten Hmar ohne Manieren. Einmal beschwerte sich Mama beim Amt, weil es uns in ein Haus voller Alkoholiker gesteckt hatte: Das sei kein gutes Umfeld für Kinder! Doch die Frau vom Amt meinte, das Leben sei kein Wunschkonzert, und Mama ärgerte sich, weil sie keine Ahnung hatte, was die Frau damit meinte. Sie warf Horst die zehn Mark vor die Füße: »Das können Sie behalten!«
    »Die kleine Bisamratte braucht eine vernünftige Hose«, stellte Horst ganz ruhig fest.
    »Kauf dir lieber Bier von dem Geld, stinkender Alkoholiker, du!«, brüllte Mama. Alle lachten und meinten, die Kopftuchtante hätte es faustdick hinter den Ohren. Horst wurde rot im Gesicht. Als Mama wieder zurückging, rief er: »Kein Benehmen, diese arabischen Nigger!« Das machte Mama fuchsteufelswild, denn Nigger war ein internationales Schimpfwort. So wie jeder auf der Welt wusste, was mit einem Stinkefinger gemeint war, wusste auch jeder, was ein Nigger war.
    »Schweinefresser, du!«, brüllte Mama. Ich zuckte zusammen, weil Mama selten brüllte. Der Mann grinste, machte eine Verbeugung, als wäre er stolz darauf, ein Schweinefresser zu sein. Dann fasste er in seine Tasche und warf mit einem Porzellanvogel nach Mama: »Alle gleich, diese Kopftuchtanten!« Sie duckte sich rechtzeitig, der Vogel zerschellte an der Eingangstür. Und ich fragte mich, warum man Porzellanvögel als Waffen benutzte. Dem ging’s wohl zu

Weitere Kostenlose Bücher