Massiv: Solange mein Herz schlägt
kannte irgendjemanden, dem so etwas Ähnliches schon zugestoßen war. Auch Safad wurde von Unruhen heimgesucht, die immer wieder in offene Straßenkämpfe ausarteten und vielen Menschen das Leben kosteten. Die 1948 erfolgte israelische Staatsgründung bezeichnete mein Opa als Naqba , Katastrophe, denn das war auch der Beginn des Palästinakrieges. Safad wurde bei den Schlachten größtenteils zerstört. Viele Stadteinwohner verließen ihre Häuser und flüchteten. Mitten in der Nacht stürmten bewaffnete Milizen das Haus, in dem mein Großvater lebte, sie zwangen die Familie auf die Straße und zündeten das Haus an. Mein Opa erhaschte noch einen letzten Blick auf das Haus seiner Kindheit – wie es sich lichterloh in den zerrissenen Himmel von Palästina brannte.
Letztendlich fand seine Familie Zuflucht in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Beirut. So wie alle palästinensischen Flüchtlinge wurden sie staaten- und rechtlos in einem fremden Land, das dem Problem, über dreihunderttausend Flüchtlinge aufzunehmen, nicht gewachsen war. Für einen Hungerlohn schuftete mein Großvater auf Baustellen als Hilfsarbeiter. Er lernte mauern, Dächer decken und andere Handgriffe, mit denen sich Geld verdienen ließ. Mein Opa arbeitete illegal, die Palästinenser benötigten für jede Arbeit eine Arbeitserlaubnis, die aber zu teuer war und nur sehr selten erteilt wurde. Mein Opa wurde im Lager geschätzt für seine ruhige konfliktlose Art und der Bereitschaft, jegliche Arbeit zu verrichten. Mama erzählte, das Lager, in dem sie geboren wurde, war von einem hohen Stacheldrahtzaun umzäunt und von bewaffneten Soldaten bewacht. Tagsüber durften die Bewohner das Lager verlassen, bei »Alarmstufe Rot« wurde ein rotes Tuch an den Mast gehängt und Ausgangssperre verhängt. Mama besuchte eine von der unrwa – ein eigens zum Schutze der palästinensischen Flüchtlinge gegründetes Hilfswerk der Vereinten Nationen – finanzierte Schule. Die Sehnsucht nach Freiheit und einem richtigen Zuhause war allgegenwärtig. Alle hofften, dass dieses jämmerliche Leben bald ein Ende nehmen würde und sie irgendwann zurückkehren könnten zu ihren Häusern und Verwandten, die sie hatten zurücklassen müssen. Mit den Jahren schrumpfte die Hoffnung auf ein gutes Ende, denn der Krieg wollte nicht aufhören, doch die Geschichten aus Palästina wurden, von Generation zu Generation, weitergegeben. Man versuchte, die Erinnerungen beizubehalten, indem man die schäbigen Häuser und engen Straßen des Lagers nach palästinensischen Dörfern und Städten benannte, Heimatlieder sang, gewohnte Familienstrukturen aufrechterhielt und, so weit es ging, traditionell kochte. Verbundenheit herrschte in allen Bereichen: Menschen teilten Lebensmittel, Medikamente und Bücher untereinander. Das Lager wurde eine Art Heimat für die Heimatvertriebenen.
Kinder wurden dort geboren und hielten den Ort für das Palästina, von dem alle redeten, für ein eigenes Land – dabei gab es dort weder Flüsse noch Berge, der Boden war staubig und trocken, und die Menschen hausten manchmal ein ganzes Leben lang wie Sardinen in der Büchse. Doch Mama erzählte, das Leben mit ihren vielen Geschwistern sei immer turbulent und heiter gewesen, außerdem sei geteiltes Leid halbes Leid, da habe das Sprichwort schon recht. Auch die Geschichten meines Großvaters und die Schulzeit zählten zu ihren schönsten Erinnerungen an das Leben im Flüchtlingslager. Anders als für mich war die Schule ein Zufluchtsort für sie. Ihre Augen leuchteten, wenn sie von ihren Lehrern und Mitschülern erzählte, obwohl sie sich das Klassenzimmer mit rund fünfzig weiteren Kindern teilen musste. Doch Mama war es gewohnt zu teilen. Gerade wenn man nichts hatte, musste man bereit sein, alles zu teilen, sagte sie immer. Neben Mathematik und Erdkunde stand auch Militärunterricht auf dem Stundenplan; dort lernte Mama marschieren, schießen, die Gasmasken richtig aufsetzen und alles andere, was Kriegskinder können mussten. Mama schnalzte mit der Zunge und sagte stolz, sie könne selbst mit verbundenen Augen besser mit einer Kalaschnikow schießen als jeder Gangster weit und breit. Wenn ich ihr manchmal, bei ihren täglichen Ritualen wie Besteck- oder Gläserpolieren zusah, stellte ich mir vor, wie sie als kleines Mädchen hochkonzentriert die Waffeninnereien mit einem Tuch putzte, die Einzelteile einölte, um sie dann in der richtigen Reihenfolge zu einer tödlichen Einheit wieder zusammenzusetzen.
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