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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Mama wohl Mitleid mit ihrem lieben, aber mutlosen Jungen hatte. Amani hatte eine historische Kiste für Kinder mit dem Löwen-Gen und ich einen kaputten Walkman für liebe mutlose Jungen bekommen. Zum Arsch mit lieben Jungen. Mama sagte, die Melodie aus Amanis Kiste würde immer die Bilder ihrer Kindheit ins Gedächtnis rufen. Bei den Erinnerungen bekam sie diesen wehmütigen Blick – einen Blick, den ich Jahre später bei unseren Vögeln sah, wenn sie die aufgehende Sonne von ihren Käfigen aus beobachteten. Ich wusste nicht, was Mama einem Leben im Flüchtlingscamp Gutes abgewinnen konnte – doch Mama war eben Mama. Sie wäre imstande, unter hundert faulen Eiern das einzige gute zu finden. »Humor und Geduld sind zwei Kamele, mit denen man überall hinkommt«, lautet eine arabische Weisheit, an die sich Mama stets hielt. Geduld und Humor. Davon brauchte Mama viel. Geduld, wenn das Elend begann, Humor, wenn der Spaß aufhörte. Sie sagte, Gott erschuf viel Schönes, aber eben auch den Menschen – je eher man das Schlechte akzeptierte, desto schneller konnte man das Gute genießen.
    Jemand, der in winzigen, provisorisch zurechtgezimmerten Holzhütten mit neun weiteren Personen auf engstem Raum zusammenlebte, musste geduldig sein. Vor allem aber musste jemand, der mit Baba zusammenlebte, sehr viel Humor haben, denn Baba verstand keinen Spaß. Mama war von klein auf an das elende Leben gewöhnt, sie wuchs zwischen den Dämpfen undichter Lagerkanalisationen und der ständigen Angst vor dem nächsten Morgen auf. Der Strom im Lager fiel ständig aus, fließendes Wasser gab es nicht; deshalb stand sie manchmal bei sengender Hitze an den wenigen Wasserstellen in der langen Schlange. Mama mochte ihre Arbeit als Wasserversorgerin der Familie, denn die Wasserstelle war auch der Ort, an dem man den neusten Klatsch und Tratsch und die ewigen Klagen über die Ungerechtigkeit des Schicksals zu hören bekam. Dort erfuhr man, wer geheiratet hatte und wer gestorben war oder auch, wer es geschafft hatte, aus dem kläglichen Dasein des Lagers auszubrechen. Mama lernte das Leben außerhalb der Lagerabsperrungen nie richtig kennen und verließ ihre kleine graue Welt, zwischen Holzhütten und Wasserstellen, nur selten. Trotzdem hatte sie sich die weitverbreitete Bitterkeit nie angeeignet.
    Mein Großvater, ein gutmütiger Mann, den ich erst Jahre später kennenlernen sollte, erzählte Mama Geschichten aus seiner Vergangenheit, um sie von der Trostlosigkeit des Lagerlebens abzulenken. Geschichten, die Mama an uns weitergab, die sich in mein Gedächtnis eingravierten, um auch mich von der Trostlosigkeit meiner eigenen Kindheit abzulenken. Mein Opa erzählte von den hohen Bergen, den klaren Flüssen und zerfallenen Burgen, den freundlichen und fleißigen Menschen und dem überwältigenden Gefühl, eine Heimat zu haben und darin sorglos leben zu können. Mama stieß meistens einen melancholischen Seufzer aus und sagte, es müsse ein wundervolles Gefühl sein, eine Heimat zu besitzen, und ich empfand genauso wie sie. Mein Opa kam ursprünglich aus Safad, einer Stadt, die mehr als 800 Meter über dem Meeresspiegel auf mehreren Berggipfeln verteilt im Norden des Landes liegt.
    Im 17. Jahrhundert war die Stadt das Zentrum der Kabbala gewesen, mehrere Tausend Juden lebten hier. Mein Opa half schon als kleiner Junge im Familienbetrieb und belieferte die Stadteinwohner mit Heizöl – die meisten seiner Kunden waren Araber. Die jüdische Bevölkerung der Stadt bestand fast ausschließlich aus ultraorthodoxen, streng religiösen Bewohnern, die völlig abgeschottet von den arabischen Einwohnern in ihren eigenen Vierteln lebten. Die Juden schafften sich eine eigene Welt, mit Geschäften, die nur koschere Lebensmittel verkauften, Schulen, Krankenstationen und ihren Gebetshäusern. Noch vor der Gründung des Staates Israel spannte sich die Lage allmählich an, und die ursprüngliche Distanz verwandelte sich in Feindseligkeit. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges kamen immer mehr Juden aus Europa nach Palästina, jede Woche liefen Schiffe mit jüdischen Flüchtlingen an Bord die Häfen an. Parallel erzählte man sich schreckliche Geschichten über die Vertreibung der arabischen Bevölkerung in verschiedenen Regionen des Landes, über die Zerstörung von Häusern und Hinrichtungen durch die jüdische Miliz. Viele wollten und konnten es nicht glauben, wie man Menschen aus ihrer eigenen Heimat vertreiben konnte. Die Gerüchte häuften sich, jeder

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