Massiv: Solange mein Herz schlägt
wird.
Unbekannt
Mama erzählte mir einmal, alle Krankenschwestern seien entzückt gewesen, weil ich das ruhigste Baby war, das sie jemals zuvor gesehen hatten. Ich kam mit einem natürlichen Lächeln zur Welt und einem Haar, das die Dichte eines Pferdeschweifs und die Schwärze eines Raben hatte. Für mein Alter war ich recht klein geraten und hatte die winselnde Stimme eines Vogeljunges. Der lange Pott-Schnitt, die runden nussbraunen Augen, die ich von meiner Mutter geerbt hatte, und die knöchrigen Arme ließen mich aussehen wie ein kleines Mädchen – zumal ich auch noch ständig die Kleidung, aus der Amani gerade herausgewachsen war, trug.
Im Kindergarten und später in meiner Klasse war ich der einzige Braune. Kinder, die anders sind, mögen die Schule nicht, denn anders zu sein bedeutet, eine Minderheit zu sein. Eine Minderheit zu sein bedeutet, ausgegrenzt zu werden, und ich war eine Minderheit – ein Exot, noch dazu in falschen Klamotten. Mama gab sich große Mühe, mir eine Tarnung zu verpassen, indem sie mir saubere Shorts und glatt gebügelte T-Shirts anzog, nichts Neues, nur Gebrauchtes, aber der Wille zählte. Mama bügelte alles: Socken, Unterhosen, sogar Duschvorhänge. Sie sagte: »Nur weil wir arm sind, müssen wir nicht arm aussehen.« Arm sahen wir trotzdem aus. Sie spuckte mir dann ins Haar, um es auf diese Weise zu formen, und sagte, ich hätte Babas Borstenhaare geerbt. An besonders widerspenstigen Tagen schmierte sie mir Niveacreme ins Haar und schickte mich dann in die Schule.
Nivea in den Haaren und ein Mädchenrucksack waren schon peinlich, nichts war aber peinlicher, als der einzige Braune in der Klasse zu sein. Auf den Klassenfotos stach ich heraus wie das schwarze Schaf in einer weißen Herde. Baba sagte oft Dinge wie »Pass dich an« oder »Fall nicht auf«. Es war sein größtes Anliegen, weitgehend unsichtbar in der Gesellschaft zu bleiben; seine Angst, zurück in den Libanon geschickt zu werden, war groß und grenzte fast an Paranoia. Wir hatten oft zusehen müssen, wie Ausländer zurück in ihre Heimat abgeschoben wurden.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich eines Nachts von einem hohlen Schrei aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Ich drehte mich nach rechts, drei in Decken eingelullte Gestalten schliefen friedlich neben mir. Dann hörte ich erneut einen dumpfen Laut. Wie ein Maulwurf grub ich mich unter den Schichten aus miefigen Wolldecken und kratzigen Handtüchern hervor. Es war Winter. Ein weißer Mantel aus Schnee bedeckte die Straßen. Es war kalt, und wir mussten sparen, wie immer auch an Wärme. Die Heizkörper waren immer abgestellt, drei löchrige Pullover und warme Decken konnten es schließlich auch tun. Wieder vernahm ich ein fremdes Geräusch. Dieses Mal richtete ich mich auf. Mit sachten Bewegungen schlich ich in Richtung Haustür. Ich lehnte mein Ohr an die schwere Tür und horchte. Tiefe Männerstimmen gaben im Befehlston Kommandos, ich hörte ein Winseln. Neugierig schob ich einen Stuhl vor die Tür und schaute durch das Guckloch. Auf der anderen Seite sah ich zwei uniformierte Männer. Unsere Nachbarin, eine aus dem Kosovo geflüchtete junge Frau weinte bittere Tränen und bohrte ihre Finger in den Türrahmen. Ich wusste nicht viel über diese Frau, sie sprach kaum Deutsch, arbeitete schwarz als Putzfrau in einem Bistro, hatte ihren Mann im Kosovo sterben sehen und ihre beiden Söhne aus eigener Kraft nach Deutschland geschleust.
Mehr wusste ich nicht über sie, denn mehr konnten Mama und sie sich mittels Zeichensprache und einzelnen aufgeschnappten Wörtern nicht sagen. Ihre Söhne waren in meinem Alter, sprachen ebenfalls kaum Deutsch und trugen genauso abgenutzte Kleidung wie wir. Beide Jungen sahen verwahrlost aus, hatten ungekämmte Haare, schmutzige Hosen und immer offene Stellen an den Knien. Der Ältere bohrte ständig in der Nase und aß seine Popel. Mama sagte, diese Kinder wären schlechter erzogen als die verwaisten Kinder in den libanesischen Flüchtlingslagern. Der Jüngere hatte ein schmales Gesicht voller Sommersprossen und Segelohren wie eine Fledermaus. Durch seine riesige Zahnlücke spuckte er beim Reden und stotterte heftig. Mama meinte: »Seht ihr, wenn ihr denkt, euch geht es schlecht, dann denkt daran, dass es immer jemanden auf der Welt gibt, dem es noch schlechter geht.« Ich fand es nicht sonderlich tröstend, dass es anderen Menschen schlechter ging als uns.
Die Mutter bettelte die beiden Männer in ihrer eigenen Sprache an.
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