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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Doch die Uniformierten redeten auf sie ein, und die Tonlage wurde immer ungeduldiger und aggressiver. Der Sommersprossensohn weinte, der Popelfresser beobachtete das Geschehen und schwieg. Die Jugoslawin sprach immer lauter und verzweifelter, flehte immer wieder: »Bitte, bitte!«, und umklammerte fest den Türgriff. Es herrschte eine Angst im Treppenhaus, die man förmlich greifen konnte. Einer der Beamten zog einen schwarzen Knüppel aus seinem Gurt und schlug der Frau kräftig auf die Fingerspitzen. Sie zuckte zusammen. Der Sommersprossenjunge rief: »Mama, Mama!«, doch der Beamte hielt ihn fest. Ich biss mir in die Faust. Mit gesenkten Köpfen gingen die drei, wie zu Tode verurteilte Verbrecher, die Treppenstufen hinab. Danach sah ich sie nie wieder. Ich wusste, wer diese Männer waren. Baba hatte viel von ihnen erzählt. Es waren die Männer, wegen denen wir uns anpassen und unsichtbar machen mussten. Sie kamen unerwartet, aber immer in der Morgenfrühe, wenn die Menschen noch ahnungslos schliefen, manchmal zehn Mann stark und mit Schäferhunden.
    Sie forderten die Ausländer auf, ihre Sachen zu packen, um sie dann in das Land, aus dem sie hergekommen waren, zurückzuschicken. Baba wirkte nervös, wenn er von den uniformierten Männern sprach. Damit machte er mich nervös, denn Baba war sonst nie nervös. Ich fragte mich, was so schlimm an dem Land, aus dem meine Eltern gekommen waren, sein konnte, dass es sogar Baba nervös machte. Wenn Baba schlecht träumte oder von düsteren Vorahnungen geplagt wurde, riss er uns mitten in der Nacht aus dem Schlaf; wir mussten dann einen Koffer mit dem Nötigsten zusammenpacken und hinaus in die Nacht rennen. Er sagte dann, sie würden jeden Moment kommen, Amani und ich heulten Rotz und Wasser vor Angst, denn die Uniformierten waren Monster für mich, die in der Morgenfrühe mit Schäferhunden kamen, um uns in ein Land zu befördern, das so schlimm sein musste, dass es sogar Baba nervös machte. Für Baba konnte alles ein Grund sein, abgeschoben zu werden, schlechte Schulnoten, ungehobelte Manieren, schmutzige Kleidung. Wenn ich einen Fleck auf der Hose hatte, sagte Baba: »Du läufst herum wie das Kind eines Obdachlosen. Wenn sie kommen, um uns mitzunehmen, ist das alles deine Schuld!« Wenn ich Ärger in der Schule hatte, schimpfte er: »Du benimmst dich wie ein dummer Asylant. Wenn wir zurück in den Krieg müssen, ist es deine Schuld!«
    Ich hatte große Angst, in den Krieg zu müssen. In den Nachrichten hatte ich gesehen, dass Menschen im Krieg vor brennenden Häusern weinten und tote Kinderkörper im Arm trugen. Einmal schmierte ich mir im Kunstunterricht mein ganzes T-Shirt voll. Auf dem Nachhauseweg kam mir ein Polizist entgegen. Ich hatte so große Angst, dass ich so schnell ich konnte davonrannte. Zu Hause fragte Mama, warum ich schweißnass war und glühende Wangen hatte. Ich erzählte ihr vom uniformierten Mann und dem T-Shirt voller Flecken. Mama nahm mich in den Arm und beruhigte mich: » Nana, euer Baba ist paranoid. Wir sind eine braune Familie mit schwarzen Vollblutaraberhaaren. In einer Gegend der einfachen Leute, Handwerker und Fabrikarbeiter haben wir andere Probleme als vollgekleckerte T-Shirts.«
    Zeitweise überkamen mich merkwürdige Gedanken. War es überhaupt meine Bestimmung mich anzupassen? Hätte Gott gewollt, dass ich mich anpasse, wäre ich doch in Palästina oder einem palästinensischen Flüchtlingscamp, wie Baba und Mama, zur Welt gekommen – an irgendeinem Ort, wo es mehr von meiner Sorte gab. Überall, nur nicht in Pirmasens, wo ich mich schon im Kindergarten zwischen blassen, blonden Kindern wie Unkraut im Sonnenblumenbeet fühlen musste. Irgendwann war ich geradezu davon überzeugt, dass es meine Bestimmung war, anders zu sein, und Gott Pirmasens als meine Geburtsstätte ausgewählt hatte, um mich von den anderen abzuheben. Ich redete mir ein, dass es gut war, anders zu sein, denn ich wusste, auch mit viel Mühe konnte sich Unkraut nicht in eine Sonnenblume verwandeln.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Freunde. Kinder in meinem Alter mochten mich nicht, außer Mama und Amani mochte mich niemand. Da war nur unser Nachbar Horst, ein arbeitsloser Alkoholiker mit fusseligen Haaren, dicken Tränensäcken unter den Augen und einem torkelnden Gang – er mochte mich. Mama hasste Alkohol und Alkoholiker. Sie sagte immer, ich sollte einen großen Bogen um unsere Nachbarn machen, weil alle Alkoholiker aggressiv seien. Horst hatte schon

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