Massiv: Solange mein Herz schlägt
überreichte mir feierlich den Walkman.
»Aber keinen Menschen mit außergewöhnlicher Willensstärke«, fügte ich hinzu, während ich versuchte, die Kassette herauszukriegen.
»Ja, das stimmt«, bemerkte Mama nickend.
»Habe ich keine Willensstärke?«, fragte ich, und Mama schien über diese Frage gar nicht erfreut zu sein.
»Die Kassette steckt fest, mein Schatz.« Mama zückte einen Schokoladenmarienkäfer aus ihrer Jackentasche und hielt ihn mir, wie ein Leckerli, vor die Nase. Immer, wenn Erwachsene nicht weiterwussten, wechselten sie das Thema, doch das Ablenkungsmanöver funktionierte nicht bei mir, ich war doch kein Welpe, der sich auf die falsche Fährte locken ließ.
»Mama, habe ich keine Willensstärke?« Ich wurde ungeduldig und ignorierte die Schokolade.
»Schätzchen, du bist doch noch ein Kind. Dein Wille ist fragil wie Glas … sei einfach ein braver Junge und drück die Play-Taste, wenn du die Welt gerade nicht hören möchtest.« Mama gab mir den Walkman zurück.
Play, wenn Baba und Mama stritten, Play, wenn ich alleine in den Pausen auf dem Schulhof stand, Play, wenn ich besonders verzweifelt war. Wenn die Musik startete, stellte ich mir vor, wie ich an einer langen Strandpromenade auf weißem Sand lag.
Die Sonne wärmte mir den Bauch, kühles Meerwasser kitzelte meine Zehen. Amani und ich bauten eine Burg, und mit sandigen Fingern liefen wir zu Mama, die uns rote, saftige Melonenstücke in die Hände drückte, die wir hinunterschlangen, während die saubere Luft unsere verpesteten Köpfe von all dem Giftmüll befreite. Und Baba – Baba war irgendwo . Nach kurzer Zeit konnte ich jeden Song auf der Kassette auswendig, dabei waren es englische Lieder, dessen Texte ich nicht einmal verstand. Erst viele Jahre später sollte ich herausfinden, dass der Vorbesitzer ein Barry-White-Fan gewesen sein musste und es die tiefe, männliche Stimme der Soullegende war, die zur Hintergrundmusik der tragischen Szenen meiner Kindheit wurde. Es war Musik, die mich beruhigte wie das Schnurren einer Katze.
Meine Schwester besaß ebenfalls ein Spielzeug: eine alte Musikkiste aus dunklem Holz, die klapprig wie eine gebrechliche Greisin war. Öffnete man den Deckel, ertönte eine wunderschöne Melodie, die einen zu träumen anfangen ließ. Amani liebte diese Holzkiste. Sie war etwas Besonderes, sie hatte eine eigene Geschichte. Ein Schreiner aus Palästina hatte sie für meinen Opa angefertigt, der einen Brand in dessen Werkstatt bemerkte und in letzter Sekunde ein Feuer verhinderte, indem er die gesamte Nachbarschaft aufweckte und eimerweise Wasser ins Feuer kippte. Mein Opa vererbte die Spielkiste an meine Mutter weiter, die bei einem Bombenangriff auf das Lager Mut bewies, indem sie Ruhe behielt und meinem Opa einen riesigen Glassplitter aus dem Auge zog. Mein Großvater meinte, nur Kinder mit dem Löwen-Gen würden diese Kiste verdienen. Das Löwen-Gen nannte er jene Eigenschaft, die Menschen bewegte, Mutiges, ohne jede Angst vor möglichen Konsequenzen zu tun. Mama nahm die Spielkiste mit nach Deutschland. Sie schenkte sie Amani, nachdem meine Schwester einem Mann einen handgroßen Stein an den Kopf geworfen hatte, als dieser dabei war, seine Frau mit Tritten in den Unterleib zu traktieren. An jenem Tag wurde Amani von zwei Polizisten nach Hause gefahren, die behaupteten, meine Schwester sei das mutigste achtjährige Mädchen der Stadt.
Baba tätschelte Amani den Kopf und sagte stolz: »Sie kommt ganz nach mir.« Mama schenkte Amani die Kiste und flüsterte ihr ins Ohr: »Du kommst ganz nach mir.« Ja, Amani war ein mutiges Mädchen. Sie stellte sich vor Mama, wenn Baba sie schlug, sie verteidigte mich, wenn sich meine Klassenkameraden über mich lustig machten, und tat viele andere Dinge, die Kinder mit dem Löwen-Gen so taten. Trotzdem wurde ich grün vor Neid, weil Baba meinte, Amani käme nach ihm, Mama meinte, Amani käme nach ihr – und keiner meinte, ich käme nach irgendwem. Das war nicht fair: Nicht nur, dass Amani eine Kiste mit Geschichte ihr Eigentum nennen konnte, hatte sie auch noch das berühmte Löwen-Gen geerbt. Mama bemühte sich, mich zu beruhigen: » Nana, Mut kann man nicht erben, entweder du bist mutig oder nicht. Manchmal ist es auch mutig, zuzugeben Angst zu haben, mein Liebling – Angst haben ist keine Schande. Ich bin außerdem froh, einen so lieben Jungen wie dich zu haben.«
Eine Woche später war ich stolzer Besitzer eines mit Tesafilm zusammengehaltenen Walkman, weil
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