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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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fluchen und niemanden zu Tode hassen. Bitte Allah um Vergebung, und dir wird verziehen. Wenn Allah nicht verzeihen würde, dann bliebe das Paradies leer.« Ich wollte Mama von Serkan erzählen, davon, dass ich voller Sünden war und Dinge getan hatte, die viel schlimmer als Fluchen oder Hassen waren. Ich wollte ihr sagen, dass Gott mir niemals verzeihen und ich in die Hölle kommen würde, zusammen mit Serkan und Schaitan. Doch die Worte wollten einfach nicht herauskommen. Ich wurde wütend auf mich selbst, auf Schaitan, auf Serkan, weil wir alle dazu beigetragen hatten, dass ich in die Hölle musste.
    »Ist Schaitan stärker als Allah?«, fragte ich.
    »Allah ist der Allmächtige.«
    »Warum bringt er Schaitan nicht einfach um?« Ich stellte mir vor, wie schön die Welt ohne Schaitan wäre, keine prügelnden Babas, keine Nachrichten mit blutenden Menschen vor brennenden Häusern, kein Serkans, keine gestohlenen Kindheiten.
    »Schaitan gehört zu Gottes Plan für die Menschheit.« Ich verstand nicht. Mama erzählte mir von Schaitan, der aus dem Feuer erschaffen worden war und sich dem Befehl Allahs, vor Adam niederzuknien, widersetzt hatte und deshalb in Ungnade gefallen war. Schaitan bat um eine Frist bis zum Jüngsten Gericht, um bis dahin so viele Menschen wie möglich vom rechten Weg abzubringen und in die Hölle mitzunehmen. Allah gewährte ihm diese Frist. Das machte mich fassungslos.
    »Warum lässt Allah es zu, dass der Teufel die Menschen in die Hölle bringt?«
    »Mein Sohn, Schaitan begleitet die Menschen in die Hölle, aber sie bringen sich selbst dorthin. Jeder kann sich entscheiden. Für Allah oder für Schaitan, für die Hölle oder für das Paradies. Das ist Gottes Prüfung an die Menschen.«
    »Verstehe ich nicht.«
    »Liebling, wenn es das Schlechte nicht gäbe, würden wir das Gute nicht kennen. Ohne den Tod wüssten wir das Leben nicht zu schätzen. Ohne Prüfungen gäbe es keine Siege. Und ohne Leid würden wir die Liebe nicht verstehen.«
    Alles nahm seinen Lauf. Die Sonne ging auf, der Mond unter. Braune Blätter verabschiedeten sich von den Baumkronen und ließen nackte Zweige zurück. Der See fror zu und taute bei den ersten Sonnenstrahlen wieder auf. Erwachsene gingen zur Arbeit und Kinder in die Schule. All das machte mich wütend. Die Welt drehte sich einfach weiter. Einfach so, obwohl meine zerstört war. Es wurde Herbst, Winter, Frühling und Sommer. Es kam mir vor, als hätte ich ein Jahr Winterschlaf gehalten. Ich hatte Tony kein einziges Mal besucht, ging nicht mit Amani auf den Spielplatz, schrieb keine neuen Wörter in meinen Block. Nichts machte mir noch Freude. In meiner Brust klaffte eine offene Wunde. Eine Wunde, die von Erinnerungen immer wieder aufgerissen wurde. An manchen Tagen war der Schmerz derart stark, dass ich das Gefühl bekam, daran zu sterben. An solchen Tagen sprach ich mit niemandem, aß keinen Bissen, sondern verkroch ich mich unter die Bettdecke und drückte auf Play. In dieser Zeit wünschte ich mich an alle möglichen Orte dieser Welt. Mama wollte wissen, warum ich nicht mehr spielen ging, seit Monaten nicht gelacht hatte, sie fragte sogar nach Tony. Ich blieb ruhig. Was sollte ich darauf schon erwidern? Das war wieder nur eine dieser Fragen, auf die keiner eine Antwort hören wollte. Mama fragte Amani, was mit mir los sei, und Amani zuckte nur die Achseln. Mama wurde nervös, Amani beruhigte sie und meinte, ich hätte Depressionen, die bald vorübergehen würden. Mama fand, ich wäre viel zu jung für Depressionen. Amani legte tröstend ihren Arm um Mamas Schultern und sagte, ich würde bald wieder glücklich sein. »Kinder sind eben so«, erklärte meine Schwester besserwisserisch. Ich schaute gedankenverloren aus dem Fenster.
    »Wann wirst du wieder lachen?« Mama schaute mich an, sie hatte einen niedergeschlagenen Blick, aber was sollte ich auf so eine merkwürdige Frage schon antworten?
    »Natürlich wenn etwas Lustiges passiert«, meinte Amani. Ich fand, das war eine recht gute Antwort auf eine recht komische Frage. Die kahlen Bäume wankten im Wind, die ersten Pollen tänzelten in der Luft, und ich fragte mich, was für ein wunderbares Gefühl es sein musste, frei und gedankenlos zu sein.
    »Mama, habe ich Krebs?« Meine Mutter horchte auf, in letzter Zeit kam es selten vor, dass ich Fragen stellte. Jeder wusste, wenn Kinder nicht mehr fragten, stand es besonders schlimm um sie.
    »Wieso denkst du das?«
    »Ich spüre diesen Knoten in der

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