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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Brust.«
    »Erst waren es Insekten im Kopf und jetzt Knoten in der Brust – was kommt als Nächstes? Hummeln im Hintern?« Mama setzte einen humorvollen Ausdruck auf, Amani gab einen Laut von sich, von dem ich nicht genau wusste, ob es ein Lachen oder ein Krächzen war. Ja, die hatten gut lachen, ärgerte ich mich, sie mussten auch nicht mit Insekten im Kopf und Knoten in der Brust schlafen gehen und Angst haben, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Wobei Angst vielleicht nicht das richtige Wort war. Manchmal wünschte ich mir, nie wieder aufzuwachen und von allen drückenden Gedanken befreit zu sein. Doch dann dachte ich an Mama, wie sie Tage und Nächte um mich weinen würde. Diese Vorstellung trieb mir Tränen in die Augen – Tränen des Selbstmitleids über mein Leben, Tränen der Trauer über meinen Tod und was für ein schwerer Schlag das für Mama wäre.
    »Ich spüre den Knoten, er sitzt nur tief.« Ich fasste mir an die Brust, und es kam mir vor, als würde sich der Knoten, wie eine Würgeschlange, um meine Brust legen und mir jede Luft zum Atmen nehmen. Mama tastete meine Brust ab.
    »Da ist aber nichts«, stellte sie entnervt fest und schien mit der Situation überfordert zu sein. Amani öffnete den Mund, wollte etwas sagen, beließ es aber bei einem verständnislosen Blick.
    »Aber …«
    »Hast du vielleicht etwas ausgefressen?«
    »Nein.«
    »Das würde die Insekten und Knoten erklären.« Ich schaute Mama mit einer Mischung aus Irritation und Verwunderung an. Erwachsene waren immer gleich misstrauisch und hatten dann die wildesten Erklärungen parat.
    »Na, wenn man etwas angestellt hat, plagt einen das schlechte Gewissen, und das fühlt sich manchmal wie ein Knoten in der Brust an.«
    »Ich glaube, ich habe Krebs und kein schlechtes Gewissen.« In diesem Moment war ich mir da gar nicht mehr so sicher. Ich fühlte mich schlecht wegen dem, was passiert war, aber ich hatte es doch gar nicht gewollt. War ich schuldig, weil ich etwas getan hatte, obwohl ich es nicht hatte tun wollen?
    »Papperlapapp, du bist viel zu jung für Krebs.« Mama hakte das Thema ab und zog die Gardinen zu. Ich war zu jung für Depressionen, zu jung für Krebs, zu jung, um eine Stimme zu haben. Was musste das für ein unglaubliches Gefühl sein, eines Morgens aufzuwachen, erwachsen zu sein und Dinge wie »Ich habe Depressionen« oder »Ich habe Krebs« zu sagen. Konnten Erwachsene nicht mehr lachen, gingen sie einfach zum Arzt, erzählten von ihren Eheproblemen oder dem Stress auf der Arbeit, und prompt bekamen sie Pillen, die sie wieder fröhlich machten. Konnten Erwachsene nicht mehr schlafen, gingen sie in die Apotheke und holten sich Pillen, die sie müde machten. Hatten sie Schmerzen in der Brust, bekamen sie Pillen, und die Schmerzen verschwanden. Als Kind bekam ich nur Pillen, wenn ich hustete, Fieber hatte oder an einer anderen sichtbaren Krankheit litt. Fühlte ich mich aber schlecht, ohne krank zu sein, wurde ich sofort bezichtigt, etwas ausgefressen zu haben oder die Schule schwänzen zu wollen. Den Erwachsenen ging es gut, dachte ich, sie hatten Pillen gegen alles, während ich mich selbst heilen musste.
    Meine Sorgen nahm keiner ernst, Mamas Freundinnen kniffen mir in die Wange und sagten Sachen wie »Och, wie gern wäre ich wieder so jung und unbeschwert« und »Ach, Kinder sind so schön sorglos«. Zum Arsch mit och und ach. Ich war voller Sorgen. Sorgen, wenn das Licht abgestellt wurde, weil Baba die Stromrechnung nicht bezahlt hatte. Sorgen, wenn ich in alten Lumpen zur Schule gehen und dafür Prügel einstecken musste. Sorgen, eine schlechte Note zu kriegen und dafür den Gürtel zu spüren. Sorgen, wenn ich an den heißen Sommertag zurückdachte und der Knoten fester wurde. Von wegen sorglos. Und genau dann, als ich dachte, schlimmer könnte mein Leben nicht mehr werden, kam es schlimmer.
    Meine Noten wurden immer schlechter, und mein Klassenlehrer meinte, wenn es so weiterginge, würde ich sitzen bleiben. Mein Vater schäumte vor Wut, es sei eine Schande sitzen zu bleiben – und das auch noch in der Grundschule. Nur ein Idiot bliebe sitzen – und nur ein verfluchter Idiot bliebe in der Grundschule sitzen. Ich fühlte mich ganz furchtbar, weil ich vor lauter Insekten im Kopf und dem Knoten in der Brust nicht auch noch an die Schule denken konnte. »Kein Wunder, dass der arme Junge sitzen bleibt. Bei all den Schlägen auf den Hinterkopf wundert es mich, dass er überhaupt noch klar denken kann«,

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