Massiv: Solange mein Herz schlägt
Birgitta.«
»Ein teuflischer Name für einen kleinen Satansbraten. Jetzt sprich mir nach.«
»Ja, Schwester Birgitta.«
»Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.«
»Aber Schwester Birgitta, ich bin Muslim.«
»Dann erst recht, vielleicht kann ich deine verdammte Seele noch retten und die Welt vor einem zukünftigen Sozialschmarotzer bewahren.« Ich wusste nicht, ob ich das Vaterunser aufsagen durfte, aber Mama hatte gesagt, ich solle tun, was die Nonne mir befahl. Außerdem machte mich das Gerede von Satan und meiner verdammten Seele unruhig.
»Aber Schwester Birgitta …« Schwester Birgitta schlug mir auf den Nacken, ich sagte schnell das Vaterunser auf, und Schwester Birgitta schlug mir wieder auf den Nacken, weil ich alles ganz falsch aufgesagt hatte. Sie bekreuzigte sich und rief: »Erlöse ihn von dem Bösen!«, hielt ihr Kreuz fest, wippte hin und her wie in Trance. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Horrorfilm, in dem ich das Monster war. Am Ende des Tages war ich mir sicher – in mir steckte eindeutig der Teufel. Mir hatte schon einmal jemand gesagt, in mir drin wäre der Teufel, aber wenn eine Nonne das behauptete, musste es doch stimmen. Auf dem Nachhauseweg machte ich mir darüber Gedanken, warum mich alle anders behandelten, obwohl Mama sagte, wir wären alle gleich. Ich fühlte mich nicht wie alle anderen. Zu allen anderen war Schwester Birgitta nett. Sie lobte die anderen Kinder, sie lächelte sie an, sie schimpfte nicht, wenn eines der anderen Kinder schlürfte, radierte oder spielte. Vielleicht lag es daran, dass der Teufel in mir steckte. Vielleicht war das der Grund, warum mich Baba schlug, Serkan diese Dinge mit mir getan hatte und ich nicht viel Glück im Leben hatte. Vielleicht hatte ich deshalb keine Freunde – wer wollte schon einen Freund, in dem der Teufel steckte? Auf dem Weg nach Hause legte ich mir die Kopfhörer an die Ohren, ließ mich von der Stimme aus der Kassette einlullen und ging gedankenversunken durch die Straßen. Während ich unter einem Baugerüst vorbeiging, hörte ich eine Stimme »Wasiem« rufen. Ich blieb stehen und drehte mich um. Da war niemand. Ich ging weiter. Wieder hörte ich jemanden »Wasiem« rufen. Ich blieb stehen und drehte mich um.
Da war wieder keiner. Dann fragte ich mich, wie ich mit den Kopfhörern auf den Ohren überhaupt etwas hören konnte. War wahrscheinlich bloße Einbildung. Im selben Moment vernahm ich einen ohrenbetäubenden Knall. Staub und Schmutz wirbelten herum, Glassplitter landeten vor meinen Füßen. Wenige Meter vor mir entfernt war der Boden voller großer und kleiner Scherben. Mein Herz schlug laut. Ich sah nach oben, einige Bauarbeiter fuchtelten mit ihren Händen in der Luft herum. Einer von ihnen kam zu mir herunter. Ich nahm die Kopfhörer ab.
»Der Bereich ist abgesperrt. Dir wäre fast eine Fensterplatte auf den Schädel gefallen.« Dann erst fiel mir auf, dass gerade ein neues Wohngebäude gebaut wurde und die Bauarbeiter an der Außenfassade arbeiteten.
»Du hast wirklich Schwein gehabt«, sagte der Bauarbeiter und klopfte mir auf die Schulter. Zu Hause erzählte ich Mama von der Stimme, die mir das Leben gerettet hatte. Mama nickte. Ich fragte, woher diese Stimme wohl kam.
»Aus deinem tiefsten Herzen«, antwortete Mama.
»Aber die Stimme hat sich nicht angehört wie eine Stimme aus meinem Herzen, sondern …«
»Sondern?«
»Wie die Stimme Gottes.« Mama verschluckte sich an ihrem Tee und meinte, ich sollte nicht so einen Blödsinn quatschen, denn nur Propheten hörten die Stimme Gottes und ich wäre einiges, aber kein Prophet. Sie meinte, es sei die Stimme meines Herzens gewesen, die mir den richtigen Weg zeigen wollte.
»Kann die Stimme auch in die Zukunft sehen?«
»Vielleicht.«
»Warum habe ich die Stimme noch nie zuvor gehört?«
»Vielleicht hast du nie zugehört.«
»Hörst du auch diese Stimme?«
»Nein, dafür bin ich zu alt.«
»Warum sind Kinder zu jung, um eine Stimme zu haben, und Erwachsene zu alt, um eine Stimme zu hören?«
»Du hast zu viele Fragen für diese Uhrzeit – geh schlafen.«
»Aber es ist doch erst sechs Uhr.« Mama
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