Massiv: Solange mein Herz schlägt
verteidigte Mama mich.
»Ich wurde auch geschlagen und habe trotzdem einen Studienabschluss«, entgegnete Baba.
»Deswegen arbeitest du jetzt auch in der Fabrik. Du und dein Telefonstudium.«
»Telekommunikation.«
»Und wenn schon.« Mama machte Baba Vorwürfe, weil er mir keinen Nachhilfeunterricht bezahlen wollte, weil er nie zu den Elternsprechtagen ging und nichts weiter tat, außer mir auf den Hinterkopf zu schlagen oder mit seinen Latschen nach mir zu schmeißen. Das wollte Baba nicht auf sich sitzen lassen und rief meinen Lehrer an, um eine Lösung für das Problem zu finden.
Mein Lehrer machte den Vorschlag, mich nachmittags ins Nardinihaus zu schicken. Das war eine Einrichtung für behinderte oder lernschwache Kinder – und Baba stimmte zu. Mein Lehrer meinte, das Nardinihaus sei eine christliche Einrichtung, in der Nonnen unterrichteten. Das machte mich nervös: Ein brauner Muslim mit schwarzen Vollblutaraberhaaren und einer Kopftuchmama würde in einem Haus voller Nonnen nicht sonderlich beliebt sein. Mama sagte: » Nana, wir sind doch alle gleich.« Ich schnauzte, Mama würde hinterm Mond leben. Mama guckte ganz verdutzt, denn ich schnauzte sie selten an, dann schüttelte sie betroffen den Kopf, weil sie sich nicht erklären konnte, woher ihr Sohn all seine Vorurteile nahm.
Ein Kind hat es schwer. Ein Kind ist wie ein verlassenes Schiff, das von der Willkür der Erwachsenen in jede erdenkliche Richtung getrieben wird. Am ersten Tag begleitete mich meine Mutter ins Nardinihaus, ein massives graues Gebäude, neben der Therminiuskirche und dem Friedhof. Mama beruhigte mich, ich solle mir keine Sorgen machen, die Lehrerinnen im Nardinihaus seien Nonnen, und Nonnen seien immer nett. Sie sagte, ich solle mich benehmen – das letzte Mal, als sie das gesagt hatte, ging es gar nicht gut aus.
»Finde endlich Freunde, benimm dich nicht immer so sonderlich, dann gelingt dir alles.« Ich nickte einfach. Nicken und nichts sagen, dann waren die Erwachsenen zufrieden.
»Tu, was dir die Nonnen sagen. Nach der Schule kriegst du dort auch was zu essen. Achte nur darauf, dass du kein Schweinefleisch isst.« Eine Ordensschwester nahm uns in Empfang und zeigte uns die einzelnen Räumlichkeiten. Das Nardinihaus war sehr groß, es gab eine Bücherei, eine Spielecke und einen Raum zum Lernen. Als ich die vielen Spielsachen sah, wurde ich kribbelig – so viel Spielzeug auf einem Fleck hatte ich noch nie zuvor gesehen.
»Pfarrer Josef Nardini hat dieses Haus aus Liebe zu Jesu Christi gegründet – für Kinder in Not«, erzählte die Schwester in dem langen schwarzen Gewand. In den darauffolgenden Tagen ging ich nach der Schule zum Nachmittagsunterricht ins Nardinihaus. Anfangs war alles gut. Wir machten Hausaufgaben, es gab Mittagessen, und wir spielten im Hof. Es gab Nudeln mit Soße, Suppen und manchmal auch Kuchen. Ich spielte mit den Spielsachen und vergaß ab und zu den Knoten in der Brust. Die anderen Kinder teilten ihr Spielzeug mit mir, sie waren höflich und viel freundlicher als meine Klassenkameraden. Ich fragte mich, ob Kinder in Not besser erzogen waren. Keiner von ihnen nannte mich Brauner, keiner von ihnen ärgerte oder ignorierte mich, und als ich einmal Schokoladenweihnachtsmänner verteilte, war ich der Held der Gruppe. Es war ein gutes Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, auch wenn diese aus behinderten, schwer erziehbaren und lernschwachen Kindern bestand – es war eine Gruppe, und das war alles, was zählte.
Doch alles änderte sich, als Schwester Birgitta die Aufsicht übernahm. Sie war eine Ordensschwester mit einem eingefallenen, von blauen Adern durchzogenen Gesicht und langen breitknochigen Fingern. Sie trug immer ihre schwarz-weiße Nonnenkleidung und ein großes Kreuz um den Hals. Wenn Schwester Birgitta den Raum betrat, wurde es ganz still. Alle respektierten sie, denn sie war sehr hochgewachsen und hatte eine tiefe, angsteinflößende Stimme. Schwester Birgitta konnte mich nicht ausstehen. Sie verabscheute mich, so wie Menschen Herpes oder eine andere eklige Krankheit verabscheuen. Ich war vielleicht noch ein Kind, doch auch Kinder merken, wenn man sie nicht mag. Außerdem war ich gewohnt, nicht gemocht zu werden, und konnte die Anzeichen dafür recht schnell deuten, denn Menschen senden Signale aus, wenn sie einen nicht mögen.
Bei der Begrüßung sollte sich jedes Kind vorstellen. Als ich an der Reihe war, fiel mir Schwester Birgitta ins Wort und nahm gleich das nächste
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