Massiv: Solange mein Herz schlägt
sarkastisch und steckte mir die Pillen in die Jackentasche. Ich hatte mich auf lsd spezialisiert. Die hochkonzentrierten Pillen gingen weg wie warme Semmeln – eine echte Marktlücke. Halluzinogene waren in Pirmasens beliebter als Koks oder Haschisch. Gewöhnliche Drogen verändern den Menschen, sie machen ihn mutiger, gelassener oder selbstbewusster. lsd hingegen beeinflusst die Wahrnehmung – man sieht die Welt mit anderen Augen –, und das war genau das, was man hier brauchte. Wir verkauften die Pillen in Kneipen, Jugendhäusern und auf dem Schulhof. Mirac holte sie in größeren Mengen von seinem Kontaktmann ab, und wir verscherbelten sie weiter. Innerhalb kürzester Zeit bauten wir uns ein Netzwerk aus Käufern und Verkäufern auf, und irgendwann waren wir die Anlaufstelle für alle, die der Realität für einige Minuten entfliehen wollten. Es war eine Zeit, in der meine Mutter viel weinte und Baba oft fluchte. Ich flog von der Schule, saß zwei Monate wegen Körperverletzung und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz in der Jugendstrafanstalt in Worms und kam mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe davon, doch das schlechte Gewissen nagte nie an mir. Ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt äußerlich und innerlich verändert.
Die erste Zutat für diese Veränderung – überhaupt für meine Entwicklung – waren die Erlebnisse in meiner Kindheit. Die langen Jahre der Unterdrückung hatten Verbitterung und Wut in mir wachsen lassen, hatten sich wie ein Krebsgeschwür in mich reingefressen. Diese Mordswut in meinem Bauch war lebendig, sie trieb mich an und gab mir das Gefühl, dauernd hungrig zu sein, denn der Krebs brauchte ständig neue, frische Zellen, die er in kürzester Zeit ebenfalls befiel. Diebstähle, Drogenverkäufe oder Prügeleien befriedigten mich nur kurzweilig. Meine Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass Schwäche zeigen eine Schwäche war und diejenigen, die sich unterdrücken ließen, unterdrückt wurden. Überkamen mich hin und wieder doch Gewissensbisse, redete ich mir ein, selbst keine Schuld zu haben. Ich kramte die Erinnerungen aus den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses hervor und fühlte mich bestätigt in dem, was ich tat. Die Anderen hatten mir immer eingeredet, ich sei ein Nichts, die Anderen hatten meine Schwäche ausgenutzt, die Anderen waren schuld an Tonys Tod, an meinen Problemen in der Schule, an den Schwierigkeiten, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Anderen waren schuld an allem – und damit konnte ich sehr gut leben.
Ich verbrachte viel Zeit in Fitness-Studios und dem Modellieren meines Körpers. Meine Oberarme wurden breit wie Baumstämme, und irgendwann war nichts mehr von dem unsicheren, schmächtigen kleinen Wasiem übrig. Ich arbeitete an mir wie ein Bildhauer an einer Skulptur, gestaltete meinen Körper um, verpasste mir eine neue Haut und kaufte mir ein passendes Auto. Ich gönnte mir von einem Teil meines Ersparten ein 3er bmw Cabriolet in Chamäleon-Optik. Zu Hause war deshalb die Hölle los. Immerhin lebten wir noch in einer kleinen Wohnung, meine Eltern waren bescheidene, gutbürgerliche Menschen aus der Arbeiterklasse, während ich die gesamte Bandbreite der Klischees eines unbeliebten Migrantenkindes abdeckte. Meine Eltern waren mit meinem neuen Ich, das sich jeder Kontrolle entzog, gänzlich überfordert. Baba meinte, das Geld, mit dem ich mein Auto bezahlt hatte, sei Haram , Sünde.
Er prophezeite mir, dass dieses Auto mich früher oder später noch ins Grab bringen würde, und damit sollte er gar nicht so verkehrt liegen. Baba sagte immer, alles an mir sei Haram . Meine Kleidung sei von Haram -Geld bezahlt worden, mein gesamtes Leben werde von Haram -Geld finanziert, die Tattoos auf meinem Körper seien sowieso Haram , und als Krönung musste ich mir auch noch ein Haram -Auto anschaffen. Versuchte ich meinen Eltern Geld in die Hand zu drücken, zerknüllten sie es und schmissen es mir an den Kopf: Von meinem Haram -Geld wollte keiner leben. Wenn ich meiner Mutter ein Geschenk kaufte, schmiss sie es weg und meinte, schmutziges Geld würde nur Unglück bringen.
Machmud und ich verließen seine Wohnung. Der Himmel war klar, es waren keine Regenwolken in Sicht. Ich zog meine Jacke aus und bemerkte, wie mir beim Gehen etwas aus der Tasche fiel. Ich drehte mich um und sah die Tüte mit den Pillen auf dem Gehweg liegen.
»Pass doch auf«, zischte Machmud und blickte nach rechts und links. »Du bist von oben bis unten tätowiert,
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