Massiv: Solange mein Herz schlägt
herauszukriechen.
»Was? Wieso das denn?«, keifte Bella. Der erste Polizeiwagen traf ein. Der Busfahrer befreite sich aus dem Wrack.
»Ich hatte einen Unfall.«
» Ach, ja klar. Das hast du bestimmt mit Absicht gemacht!« Bella legte wütend auf. Krankenwagen und Feuerwehr rückten an. Eine kleine Unaufmerksamkeit hatte einen immensen Schaden angerichtet. Trotzdem hatte ich Glück, es gab keine Toten, und ich war gut versichert – so viel zum Thema Haram -Geld.
Einige Monate später fand Machmuds Verhandlung statt. Wie sich herausstellte, war er monatelang observiert worden, bevor man ihn festgenommen hatte. Die umfangreichen Protokolle darüber, wie er V-Männern Kokain, in Milchtüten verpackt, in die Hand gedrückt hatte, füllten Ordner für Ordner. Unzählige Vorstrafen wie räuberische Erpressung und schwere Körperverletzung belasteten ihn ebenfalls, und zu guter Letzt wurde er von allen Kontaktmännern, mit denen er jemals zusammengearbeitet hatte, verpfiffen.
Der Staatsanwalt bot ihm einen Deal an, sein Anwalt riet ihm, auf das Angebot einzugehen. Er sollte gegen die Leute aussagen, die gegen ihn ausgesagt hatten, doch Machmud meinte, er würde sich nicht von Ratten zu einer Ratte machen lassen. Er schwieg und wurde zu neun Jahren Haft verurteilt. Bei der Urteilsverkündung wich jedes Gefühl aus Machmuds Gesicht, diese Strafe sprengte unsere Vorstellungskraft. Machmud schwieg und sah niemanden an. Neun Jahre . Das Leben meines besten Freundes war zerstört, bevor es richtig angefangen hatte. Als Mirac und ich den Gerichtssaal verließen, kreisten meine Gedanken nur um ihn. Ich ging die Treppen runter, hob meinen Kopf – und es war, als würde mich der Blitz treffen. Ich blieb ruckartig stehen.
»Was ist los?«, wollte Mirac wissen.
Da war er . Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, trug einen Bierbauch vor sich her … und der ekelhafte Schnauzer, der war ab. Dennoch erkannte ich ihn von der ersten Sekunde an. Da ging er, dachte ich mir, mit einem breiten Grinsen auf den Lippen Richtung Gerichtssaal. Vielleicht hatte sich eines der Kinder getraut, ihn anzuzeigen. Und wenn schon, ein Jahr Bewährung, und damit hätte sich die Sache erledigt. Immerhin war Deutschland das Kinderschänderparadies. Jemand, der einem Kind die Kindheit stahl, kam ungestraft davon, doch wehe dem, der den Staat beklaute – der musste bluten. Meine Haare sträubten sich zu Berge, ich ballte meine Fäuste und spürte diese tiefsitzende Wut in mir aufkeimen. Serkan erkannte mich nicht. Er hatte mich vergessen, während ich mich an jede einzelne seiner Hautschuppen erinnern konnte. Die Erinnerungen an den heißen Sommertag hatten sich wie Ohrwürmer in mein Gehirn eingegraben. Nein, ich hatte ihn nicht vergessen – ich wollte ihn nicht vergessen, wollte mich immer daran erinnern, für den Fall, dass wir uns unter anderen Voraussetzungen wieder begegnen würden.
Und das waren andere Voraussetzungen. Mittlerweile war ich größer und stärker – wir waren auf Augenhöhe. Serkan kam auf mich zu, und für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Er ging unbeirrt weiter, doch ich packte ihn am Kragen, und er drehte sich erschrocken um.
»Keine Angst, Kleiner«, sagte ich mit greller Stimme – und knallte ihm die erste Faust auf das Kinn. Es brach wie eine Vase, er taumelte und fasste sich schockiert an den blutenden Mund. Dann verpasste ich ihm einen Tritt in den Magen, er fiel nach hinten und landete auf dem harten Asphalt. Ich trat ihm ins Gesicht und in die Weichteile – immer wieder in die Weichteile. Das Adrenalin beflügelte mich, ich konnte nicht mehr klar denken. In diesem Moment wäre ich dazu bereit gewesen, Serkan umzubringen.
»Muss das unbedingt hier sein?«, rief Mirac. Serkan winselte wie ein verängstigtes Kind, in seinem Blick war ein Flehen – und ich erinnerte mich daran, wie ich ihn damals mit demselben Blick angesehen hatte. Mit viel Mühe schaffte es Mirac, mich wegzuzerren.
»Du bringst ihn noch um!«, rief er panisch, und als ich mich von Serkan löste, bemerkte ich all die erschrockenen Blicke um uns herum. Ich drehte mich um, ging und blickte nie wieder zurück.
KAPITEL 10
Die Stimme
Wer kein Ziel hat, kann auch keines erreichen.
Lao-Tse
Dieb, Einbrecher, Drogendealer, Kaminofenbauer, Fliesenleger, Kunststoffmechaniker, Maler und Lackierer. Mein Leben hatte aus einer Aneinanderreihung sinnloser Entscheidungen bestanden. Machmuds Verurteilung hatte mich wachgerüttelt, ich hatte
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