Massiv: Solange mein Herz schlägt
Berlin so?« Meine Mutter zupfte abwesend die Katzenhaare aus dem Saum ihrer Bluse.
»Nein, Wedding, Neukölln, Reinickendorf und Schöneberg gehören den Türken und Arabern, Marzahn, Hohenschönhausen und Pankow den Russen und Polen und so weiter. Jedem gehört ein eigenes Gebiet.«
»Erst einmal gehört niemandem irgendwas«, meinte Mama schnippisch.
»Wie?«
»Alles gehört Allah, wir sind hier nur Bewohner auf Zeit. Wie können wir es uns erlauben, ein Land, eine Stadt oder auch einen Bezirk für uns zu beanspruchen?« Mama hatte immer einen klugen Satz auf der Zunge, was manchmal nervt, besonders weil ich mit ihrem scharfen Verstand nicht mithalten konnte.
»Du weißt schon, was ich meine – so hat jeder seine Ruhe.« Auch wenn ich selbst nicht recht wusste, was ich damit meinte.
»Warum wollen immer alle ihre Ruhe haben? Wir sind doch alle gleich, wir müssen versuchen, miteinander, nicht nebeneinander zu leben.« Ich musste lächeln – Mama und ihre idealisierten Vorstellungen von einer vorurteilsfreien Welt.
»Du bist bestimmt der einzige Mensch in Berlin, nein, in ganz Deutschland, der noch so denkt.«
»Ich hoffe nicht, aber daran ist nur der Staat schuld.« Sie faltete die Bettwäsche zusammen und verstaute die glatten weißen Baumwolllaken ganz hinten im robusten Holzschrank. Seitdem ich denken konnte, lehnten meine Eltern jede Art von Veränderung ab – und jetzt waren wir hier, in einer neuen Wohnung, in einer neuen Umgebung, und Mama legte gerade neue Bettlaken in einen neuen Schrank. Ich hatte alles auf den Kopf gestellt. Ein ungutes Gefühl kroch in mir hoch, doch ich unterdrückte es und schob etwaige Zweifel schnell beiseite.
»Was hat der Staat damit zu tun?«, konzentrierte ich mich stattdessen auf unser Gespräch.
»Trennung statt Versöhnung – das bewirkt der Staat bei seinem Volk.« Lala, unsere schwarze Hauskatze, rieb sich an Mamas Fußknöcheln.
»Ich verstehe nicht.«
»Ausländer werden nach ihrer Ankunft in Deutschland in Randbezirke einquartiert, nach und nach bilden sich dort ganze Generationen bestimmter Volksgruppen, und jeder Bezirk wird zu einem eigenen Gebiet, ich würde sogar sagen, zu einem eigenem Land. Kindergärten, in denen nur türkische Kinder sind, Schulen, in denen nur arabische Jugendliche sind, Wohngebiete, in denen nur Deutsche leben. Menschen aller Nationen wachsen mit der Vorstellung auf, eine Multikulti-Gesellschaft könnte nur dann funktionieren, wenn man die Menschen von Beginn an trennt. Der Staat ist wie eine Spinne, die das Netz sozialer Ungerechtigkeit webt.« Mama setzte sich an die Bettkante, Lala sprang auf ihren Schoß und fing bei der ersten Berührung an zu schnurren.
»Ich denke, der Staat kann daran nichts ändern, Mama. Menschen haben lieber mit Gleichgesinnten zu tun.«
»So denkst du also – das habe ich dir nicht beigebracht.« Meine Mutter schüttelte den Kopf, Lala vergrub ihre Schnauze in Mamas Bluse.
»Ja, so denke ich. Das musstest du mir auch nicht beibringen, die Erfahrung hat mich das gelehrt.«
»Trennung statt Versöhnung – weit werden wir damit nicht kommen.« Mama seufzte, stieß Lala sanft zur Seite und kramte nach dem Katzensofa in dem Umzugskarton. Lala legte sich hinein, und prompt gesellte sich auch unsere weiße Perserkatze Leyla dazu. In Embryostellung schmiegten sich beide ineinander ein, ein Bild, das stark an das Symbol von Yin und Yang erinnerte. Mama seufzte, ich wusste, was sie dachte, bevor sie es aussprach.
»Tiere sind den Menschen weit voraus. Sie haben keine Vorurteile und kümmern sich nicht um Farben.«
Am nächsten Morgen wollte ich meinem Vater unsere neue Umgebung zeigen. Wir gingen durch die Straßen des Wedding, Baba schüttelte den Kopf und meinte unsicher »Zu groß« oder »Viel zu groß« oder »Wo hast du uns da hingebracht?«. Ich grinste.
»Zu viele Menschen, zu viele Geschäfte. Hier sind ja überall Geschäfte. Da ein Imbissstand …« Baba zeigte auf eine Dönerbude, wo sich hinter der Fensterscheibe ein riesiger Fleischkloß am Spieß drehte.
»… hier ein Obststand.« Er schaute in die Richtung eines Ladens, der farbenfrohes Obst und grünes Gemüse anbot. Baba konnte es nicht fassen, so viel Leben direkt vor unserer Haustür.
»Die Innenstadt von Berlin ist sehr groß.«
»Das ist nicht die Innenstadt, das ist nur der Wedding, Baba.«
»Jallah, jallah, wie sollen wir uns hier zurechtfinden? Dafür bin ich viel zu alt – viel zu alt.« Baba blieb stehen,
Weitere Kostenlose Bücher