Massiv: Solange mein Herz schlägt
vielleicht am darauffolgenden Monat Gabeln aufeinanderstapeln. Doch dieses Leben war mir einfach zuwider geworden. Ich konnte diese gutbürgerliche Stadt voller gutbürgerlicher Bürger mit ihren gewöhnlichen Berufen, die ein mittelmäßiges Leben führten, keinen Moment länger ertragen.
»Nein, Baba. Meine Entscheidung steht fest. Reiche bitte morgen deine Kündigung ein. Nächsten Monat ziehen wir nach Berlin. Du kannst mich nicht mehr umstimmen, entweder du kommst mit oder bleibst hier alleine zurück.«
»Wa-wa-was? Wir ziehen nach Berlin? Ich soll meinen Job aufgeben? Du hast sie nicht mehr alle!« Babas Stimme zitterte, er sah das Feuer in meinen Augen und wusste, nichts und niemand würde mich umstimmen können.
»Vor langer Zeit hast du selbst alles für einen Traum aufgegeben, hast du das schon vergessen?«
»Einen Traum? Du nennst es einen Traum, wenn man vor Krieg und Armut flüchtet?«
»Immerhin bist du der Einzige aus deiner Familie, der es geschafft hat, von da wegzukommen. Baba, auch du hattest Träume, vielleicht andere als ich, aber auch ich will flüchten, vor der Routine, der Leere und Normalität.«
»Aha.« Zum ersten Mal hörte mein Vater einfach zu.
»Wir sind gar nicht so verschieden, wir beide waren bereit, für unseren Traum alles aufzugeben.«
»Nehmen wir mal an, ich mache diesen Zirkus mit und wir geben für deinen fragwürdigen Traum alles auf«, ich wurde hellhörig, »ich weiß, in drei Wochen schmeißt du wieder alles hin, und dieses Mal wäre es unser aller Verderben.«
»Wieso denkst du das?«
»Weil du das immer tust. Dir fehlen Wille, Disziplin und Durchhaltevermögen.«
»Ich kann mich ändern. Barry White hat sich geändert, er war im Gefängnis, weil er Autoreifen gestohlen hatte. Mike Tyson wurde achtunddreißig Mal festgenommen, bevor er ein Weltmeister wurde. 50 Cent war in seiner Jugend Drogendealer und ist nun ein gefeierter Rap-Star.«
»Siehst du – Musik für Drogendealer«, sagte Baba. Nicht gewohnt wütend oder demütigend, sondern mit einer gewissen Ironie, ja, fast mit einem heiteren Unterton.
»Bitte, Baba, vertrau mir. Glaube nur dieses eine Mal an mich, ich verspreche dir, ich werde dich nicht enttäuschen.« Ich sah meinem Vater direkt in die Augen.
Dann geschah etwas Außergewöhnliches: Mein Vater legte seinen Arm um mich. In seinem Blick sah ich das erste Mal echte Güte, vielleicht sogar Vaterliebe. Es war ein intensiver Moment. Der beste, den ich je mit Baba hatte.
»Gut, ich reiche morgen meine Kündigung ein. Ich sage dir aber von vornherein, ich werde meinen Tee weiterhin ohne Zucker trinken und auf keinen Fall deine CDs kaufen.« Baba schenkte mir ein Lächeln, ein dünnes zaghaftes Lächeln, wie das Sprießen der ersten Knospe in einem dornigen Rosenbusch, aber es war ein Lächeln.
KAPITEL 14
»
Ich bin ein Berliner!
«
Nur wer seinen eigenen Weg geht, kann von niemandem überholt werden.
Marlon Brando
Einen Monat später verstauten wir unsere Habseligkeiten in dreißig Umzugskartons und gaben unser sicheres Leben für ein unbekanntes Abenteuer in einer unbekannten Stadt auf. Der Abschied von Pirmasens fiel mir nicht schwer. Mirac war in New York, Isabella in Italien, Machmud im Gefängnis, und meine Familie hatte ich gleich mit im Gepäck. Ohne Bedenken kehrte ich der Stadt, die mich fast gebrochen hatte, den Rücken zu und ging nach Berlin – für einen Traum und für ein neues Leben.
Wir zogen in einer Dreizimmerwohnung im Wedding ein. Meine Eltern hatten ihre Jobs, Amani ihre Kosmetikerinausbildung aufgegeben, sie kannten keine Menschenseele in Berlin, und unsere Ersparnisse waren knapp. Ich hatte mir eine große Verantwortung aufgebürdet, drei Menschen wie Bäume aus ihren gewohnten Lebensräumen herauszureißen und in einer neuen Umgebung einzupflanzen. Würde ich es in Berlin nicht schaffen, wäre nicht nur ich, sondern meine gesamte Familie ruiniert. Der Druck war enorm, doch meine Mutter sagte einmal, Menschen wären nur unter großem Druck bereit, Großes zu leisten. Die Dorfidylle gegen ein Multikulti-Viertel wie den Wedding einzutauschen war für meine Eltern ein Kulturschock.
»Wo kommen die ganzen Ausländer her?«, fragte Mama, während sie unsere Kleidung in den Familienschrank im Schlafzimmer einsortierte.
»Was meinst du?« Ich schleppte einen schweren Umzugskarton ins Zimmer und stellte ihn auf dem Bett ab.
»So viele Araber auf einem Fleck habe ich das letzte Mal im Libanon gesehen. Ist das überall in
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