Massiv: Solange mein Herz schlägt
drehte sich um einhundertachtzig Grad und sah in die Menschenmenge wie ein verschrecktes Kind, das sich verlaufen hatte.
»Ihr werdet euch schon schnell zurechtfinden«, versuchte ich meinen Vater zu beruhigen.
»Leben überall in Berlin so viele Ausländer?« Baba betrachtete eine südländische Frau, die in ihrem dunkelblauen Kleid und dem eng anliegenden grünen Kopftuch aussah wie ein bunter Pfau.
»Nein, Baba. Es gibt auch Orte, wo du keinen einzigen Ausländer siehst.«
»Das finde ich gut.«
»Was findest du gut?«
»Dass jeder seinen eigenen Platz hat. So können Menschen sich, und Auseinandersetzungen, aus dem Weg gehen. Wir sind eben so, Wasiem – die Menschen sind eben so –, sie wollen lieber unter sich bleiben.«
»Denkst du, Probleme lösen sich, wenn man ihnen aus dem Weg geht, anstatt sich ihnen zu stellen?« Ich genoss die Diskussion mit Baba. Die letzte Zeit hatten wir mehr miteinander gesprochen als in den vorigen vierundzwanzig Jahren zusammen.
»Manchmal ist es besser, Grenzen zu ziehen, um Konflikte zu vermeiden.« Baba kramte in seiner linken Hosentasche und zog eine Tüte mit Sonnenblumenkernen heraus.
Er spaltete die Schale mit den Zähnen, aß das Innenleben und steckte die Abfallreste in die rechte Hosentasche, anstatt sie, wie jeder andere normale Mensch, auf den Bordstein zu werfen. Bei Baba hatte eben alles seine Ordnung.
»Das ist aber auch keine Lösung. In Palästina haben Grenzen erst zu Konflikten geführt. Durch Grenzen wollen Menschen erst recht etwas für sich beanspruchen, durch Grenzen trennt man die Menschen, anstatt sie zu versöhnen.«
»Du redest ja wie deine Mutter.«
»Sie ist eben meine Mutter.« Wir gingen noch ein Stück zur U-Bahn, und ich freute mich über die Unterhaltung mit Baba. Es war ein wohltuendes Gefühl, mit seinem Vater über Gott und die Welt sprechen zu können. Baba war nicht mehr der Alte, es war, als hätte man es geschafft, nach vielen vergeblichen Versuchen eine festsitzende Schraube endlich zu lockern. Wir stiegen in die U9 ein und setzten uns hinter eine Gruppe Jugendlicher in Kapuzenpullovern und ausgeleierten Hosen, die auf ihren MP3-Playern lautstark deutschen Hiphop hörten.
»Nächste Haltestelle Nauener Platz«, rauschte es aus den Lausprechern.
»Furchtbar, diese verzogenen Kinder mit ihrer schrecklichen Musik«, motzte Baba und steckte sich eine Handvoll Sonnenblumenkerne in den Mund. In diesem Moment ertönte ein neuer Song aus dem MP3-Player, die Jugendlichen drehten voll auf und grölten mit – das gesamte Abteil drehte sich nach ihnen um. Die Melodie kam mir irgendwie bekannt vor.
»Ihr wolltn Ghettolied, aufn Ghettobeat …«
Ich traute meinen Ohren nicht und drehte mich um. Die Jugendlichen feierten wie auf einem Live-Konzert.
»Wedding 65, komm doch her, wenn du Streit suchst. / Und das ist kein Fluch, das ist Schicksal. / Wir Kanaken landen immer im Gerichtssaal … / High Society, pures Weißgold. / Ungestrecktes Kokain, komm, kauf ’ne Handvoll. / Das ist Selbstmord, doch es stärkt dich …«, dröhnte es aus den MP3-Playern. Ich war fassungslos. Das war das Ghettolied … mein Ghettolied.
»Denn es gibt hier Tage, wo es wirklich hart und schwer ist. / Jeder Dritte hat eine Waage, jeder Zweite lebt im Block. / Jeder Erste konsumiert, nur jeder Zehnte hat einen Job. / Keine Träume werden wahr, weil man mit den eignen Augen sieht, / wie im Park die Junkies spritzen und der eigne Bruder dealt …«
Jetzt drehte sich auch Baba um und fragte verwundert: »War das nicht deine Stimme?«
»Ja.«
»Hast du etwa schon eine CD rausgebracht?«
»Nein.«
»Hast du in dem Lied jemanden ermutigt, eine Handvoll Kokain zu kaufen?« Baba sah mich entsetzt an, für solche Diskussionen fehlte mir gerade jeder Nerv. Ich musste herausfinden, woher die Kids meinen Song hatten und warum sie jede Strophe in- und auswendig kannten.
»Waffenstillstand, Neukölln, Kreuzberg. / Wedding, Wedding, mein Stolz, mein Herz. / Egal ob Araber, Kurde, Türke, Deutscher. / Ab jetzt zählt nur Freundschaft. / In den Schulen müsst ihr euch beweisen. / Damit die Kultur nicht darunter leidet …«
»Ich komme gleich, Baba.« Ich stand auf und setzte mich nach hinten zu der Gruppe.
»Hey, woher habt ihr das Lied?«, fragte ich, aber keiner schenkte mir Beachtung. Einer der Jugendlichen mit einer schief sitzenden Basecap auf dem Kopf präsentierte stolz auf seinem Handydisplay das Foto eines nackten Hinterns und prahlte von den
Weitere Kostenlose Bücher