Mathias Sandorf
Sarcany sich erwählt hatte, um die Entwicklung dieses Dramas zu beschleunigen.
Der Doctor, Peter und Luigi begehrten alsdann die nach arabischer Sitte eingetheilte Wohnung zu besichtigen, nach welcher die verschiedenen Zimmer von einem Patio ihr Licht erhalten, der von einer rechtwinkligen Galerie umgeben ist.
Sie langten bald in dem Zimmer an, welches Sarah bewohnt hatte – einer vollkommenen Gefängnißzelle. Wie viele Stunden hatte das junge Mädchen, eine Beute der Verzweiflung, dort verbringen müssen, ohne darauf rechnen zu können, irgend welche Hilfe zu erhalten! Der Doctor und Peter durchmusterten das Zimmer mit den Blicken, ohne ein Wort zu sprechen; sie suchten nach den geringfügigsten Anzeichen, welche sie auf die von ihnen gesuchten Spuren hätten leiten können.
Plötzlich näherte sich der Doctor lebhaft einem kleinen kupfernen Feuerbecken, das in einer Ecke des Zimmers auf einem Dreifuße stand. Auf dem Boden dieses Beckens erzitterten einige von dem Feuer zerstörte Papierstückchen, die noch nicht ganz zu Asche geworden waren.
Sarah hatte also geschrieben. Von der schleunigen Abreise überrascht, hatte sie sich entschlossen, den Brief vor dem Verlassen von Tetuan zu verbrennen.
Oder – was sehr leicht möglich war – der Brief war bei Sarah gefunden und von Sarcany oder Namir verbrannt worden.
Auf den Papierresten, die der Wind ganz zu Asche machen konnte, hoben sich noch einige Worte in schwarzer Schrift ab – unter Anderem stand da, unglücklicherweise unvollständig: »Fr.. Bath…«
Sarah, die nicht wußte und nicht wissen konnte, daß Frau Bathory aus Ragusa verschwunden war, hatte wahrscheinlich versucht, der einzigen Person auf dieser Welt, von der sie auf Beistand hoffen konnte, zu schreiben.
Neben dem Namen der Frau Bathory konnte man einen anderen ebenfalls entziffern – denjenigen ihres Sohnes….
Peter, der seinen Athem anhielt, versuchte noch ein vielleicht lesbares Wort ausfindig zu machen… Doch sein Blick hat sich getrübt… Er sah nichts mehr…
Es stand aber noch ein Wort da, welches auf die Spur des jungen Mädchens leiten konnte – ein Wort, welches der Doctor fast unverletzt auffand…
»Tripoli,« rief er.
Also in der Regentschaft von Tripolis, in seinem Geburtslande, wo er unbedingte Sicherheit finden mußte, hatte Sarcany seine Zuflucht gesucht. Dieser Provinz entgegen bewegte sich die Karawane, die nun schon einen fünfwöchentlichen Marsch hinter sich hatte.
»Nach Tripolis!« sagte der Doctor.
Noch am selben Abend hatte der »Electric 2« das Meer wieder gewonnen. Sarcany, der sich gewiß beeilte, die Hauptstadt der Regentschaft zu erreichen, konnte höchstens einige Tage vor ihnen dort ankommen.
Zweites Capitel.
Das Fest der Störche.
Am 23. November bot die Ebene von Sung-Ettelateh, die sich außerhalb der Mauern von Tripolis ausbreitet, einen merkwürdigen Anblick dar. Wer hätte an jenem Tage behaupten wollen, ob diese Ebene dürr oder fruchtbar ist?
Ihre Oberfläche bedeckten vielfarbige Zelte, die mit Quasten und in schreienden Farben gehaltenen Fähnchen ausstaffirt waren; elende Schänken, deren verblichene und vielfach geflickte Leinwandumhüllungen ihre Gäste gegen die unfreundliche »Gibly«, den trockenen Südwind, nur unzulänglich beschützen konnten; hier und dort sah man Gruppen von reich nach orientalischer Manier aufgeschirrten Pferden, von Meharis, die ihre platten Köpfe, welche wie halbleere Schläuche aussahen, im Sande ausstreckten, von kleinen Eseln, die wie große Hunde aussahen und großen Hunden, die kleinen Eseln ähnelten, von Mauleseln, die den riesigen arabischen Sattel trugen, dessen Sattelbausch und Sattelknopf sich abrunden wie die Höcker des Dromedars; Reiter mit Flinten über dem Rücken, Knien in Brusthöhe, Füßen, die in pantoffelartigen Steigbügeln steckten, mit dem doppelten Säbel im Gürtel; sie galoppirten durch die Menge von Männern, Frauen und Kindern, ohne sich im Geringsten zu scheeren, ob Jemand ihnen im Wege stand; schließlich Eingeborene die fast ohne Unterschied in den Burnus gehüllt waren, unter welchem man einen Mann nicht von einer Frau unterscheiden könnte, wenn nicht die Männer die Falten dieses Mantels auf der Brust mit Hilfe eines kupfernen Schlosses zusammenhalten würden, während die Frauen den oberen Zipfel so über das Gesicht fallen lassen, daß nur das linke Auge sichtbar bleibt – ein Kostüm, welches je nach dem Stande seiner Träger variirt, denn die Armen tragen nur
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