Mathilda Savitch - Roman
überhaupt Menschen malen, wenn man ihnen nicht mal ein Gesicht verleiht?
Annas Zimmer ist das ideale Mädchenzimmer, pink und weiß und flauschig. Alles ist an seinem Platz. Man kann sich leicht vorstellen, dass Leute dieses Zimmer in hundert Jahren besichtigen. Wie ein Museum. JUNGMÄDCHENZIMMER hieße das Exponat. Die Besucher wären Zukunftsmenschen, die in Gehäusen schlafen und ewigleben. Aber ich wette, Annas Zimmer würde sie immer noch neidisch machen. Eine dicke Hummel bumst ans Fenster. Ich schleudere meine Schuhe weg und lasse mich aufs Bett fallen.
«Was machst du da oben?», ruft Anna. «Kommst du runter?»
«Nein», sage ich, «du sollst raufkommen.»
Ich drapiere mich wie in Pornostellung auf dem Bett, aber als Anna mich sieht, kapiert sie nicht.
«Warum liegst du da so?», fragt sie.
«Ich weiß nicht», sage ich und mache die Beine wieder zusammen.
Die Hummel zieht immer noch ihre Fensternummer ab, rumst mit dem Kopf an die Scheibe. Solche Tiere tun einem richtig leid, wirklich wahr.
Anna setzt sich neben mich aufs Bett. Sie neigt den Kopf wie eine Puppe. Plötzlich ist sie mein Kindermädchen. Sie streicht mir das Haar aus dem Gesicht. Um uns herum liegen lauter herzförmige Kissen. Es ist wirklich eine andere Welt.
Sie fragen sich wahrscheinlich, warum jemand wie ich eine Freundin wie Anna hat. Warum bin ich nicht von anderen Schlauköpfen umgeben? Warum Anna mich aussuchen sollte, wollen Sie wissen? Aber schon die Frage ist falsch gestellt.
Nicht Schönheit entscheidet, sondern der Geist. In Wahrheit habe ich Anna ausgesucht.
Der Anfang unserer Freundschaft hat eine Geschichte. Schauplatz ist der Schwimmclub im Randolph Park. Die Zeit, erst fünf Monate her.
Ich saß auf einem Liegestuhl und las einen Roman.
Das Strohhotel
. Das Buch stand nicht auf der Leseliste für den Sommer, ich hatte esbei einem Garagenverkauf gefunden. Es geht um eine Frau mit Gedächtnisschwund, die eine Mörderin sein könnte, mehr verrate ich nicht, falls es jemand lesen will. Absolut empfehlenswert!
Wie auch immer, Anna war im Schwimmbecken. Sie trug einen gelben Badeanzug. Sie machte Wassertreten und redete mit einem anderen Mädchen. Ich glaube, es war Cheryl List, aber das andere Mädchen ist unwichtig. Die beiden tuschelten und lachten. Ihre Haare waren vollkommen trocken.
Am Beckenrand stand eine Gruppe Jungen, auch da wurde getuschelt. Im Club laufen jede Menge Intrigen, wenn einen so was interessiert.
Zum ersten Mal bemerkte ich Annas Augen. Sie leuchteten wie etwas, was man sofort stehlen will.
Plötzlich springt einer der Jungen ins Wasser. Es ist Michael Flatmore, der «Fletscher». Er landet so, dass er Anna nass spritzt, und sie spritzt zurück. Er nähert sich ihr und fällt regelrecht über sie her. Er taucht sie unter, lässt sie hochkommen und Luft schnappen, dann taucht er sie wieder unter. Er hat sie vollkommen in seiner Gewalt, es ist widerlich. Bestimmt ist er in Anna verknallt, aber alles, was ihm zu ihr einfällt, ist Unterwassertunken. So sind die Jungen. Wahrscheinlich ist er sexuell frustriert.
Anna ringt nach Luft. Cheryl List hilft nicht einmal. Als ich ins Wasser springe, dreht Michael sich um, und ich ziehe ihn von Anna weg. Ich beschimpfe ihn, sage
Arschloch
und
beschissener Idiot
, obwohl ich solche Wörter eigentlich nicht in den Mund nehme. Sie kommen einfach aus mir heraus. Aus Versehen kratze ich ihn ins Gesicht. Anna keucht und hustet, und ich bringe sie an den Rand. Ich war plötzlich so in Rage wie noch nie in meinem Leben.
«Beschissener Idiot», schreie ich Michael hinterher. Der dickeBademeister wacht endlich auf und bläst in seine Silberpfeife. «Aufhören», sagt er.
Ich helfe Anna aus dem Becken und frage, ob alles in Ordnung ist. Sie nickt, aber ich kann Ihnen sagen, sie ist misstrauisch. Wie komme ich dazu, ihr zu helfen? Es ist ihr ein Rätsel.
Michael Flatmore ist jetzt auch aus dem Wasser. Er geht an uns vorbei. Gedemütigt bis dorthinaus. An seiner Wange sieht man sogar etwas Blut.
Anna und ich stehen lange tröpfelnd da.
«Magst du was essen?», fragt sie schließlich. «An der Snackbar?»
Im
Strohhotel
isst Beatrice, die Frau mit dem Gedächtnisschwund, nur Obst.
«Gern, am liebsten einen Smoothie», sage ich.
«Sekunde, bin gleich wieder da», sagt Anna. Sie verschwindet in den Toiletten, und ich frage mich, ob sie da wirklich jemals wieder rauskommen wird. Ich sehe, wie Cheryl List auf der anderen Seite des Schwimmbeckens mit Michael
Weitere Kostenlose Bücher