Mathilda Savitch - Roman
hochgeschlossen bis an den Hals, aber plötzlich macht sie ein paar Knöpfe auf und ist umwerfend. Sie erscheint in einem ganz neuen Licht, als sie sich auf dem Bett ausstreckt. Sogar ihre Stimme wird tiefer.
Ma und Pa hatten einen festen Schlaf, also war ich die Einzige, die von dem Knarren aufwachte, wenn Helene sich aus dem Haus schlich. Eines Nachts gegen drei Uhr morgens kletterte sie in mein Bett. Als ich die Lampe anknipste, hatte sie ihr Kleid noch an, und ihr Gesicht wirkte ganz verschwommen, als hätte jemand versucht, es auszulöschen. Ihr Mund war wie der Schmollmund eines kleinen Kindes, das zu viel Marmelade nascht. Ich fragte sie, was los sei, und sie sagte
nichts, schlaf weiter
. Trotzdem guckte ich sie weiter an, weil ich ziemlich sicher war, dass sie mir etwas sagen wollte. Sie starrte genauso zurück, und schließlich lächelte sie ein klein wenig und sagte
Salagadula mechika bula, bibbidi bobbidi bu,
den Spruch aus dem Zauberlied von
Cinderella
. Die Worte haben keinen richtigen Sinn, aber lange Zeit war es mein Lieblingslied, das schönste auf der Welt. Helene drückte mich so fest an sich, dass ich dachte, ich könne nicht mehr einschlafen, aber ich tat es doch. Ich glaube, irgendwie wirkt diese Zauberformel, vor allem spätnachts, wenn man mit seiner Schwester im Bett liegt und sie einen plötzlich lieb hat. Was nicht immer der Fall war.
Manchmal schien Helene sauer auf uns alle, obwohl wir ihr nichts getan hatten. Dann wieder hatte sie Weinkrämpfe. Sie war sehr emotional. Mit Ma gab es oft richtigen Zoff. Irgendwie konnte Ma es nicht leiden, wenn Helene sich verliebte, was sie ziemlich oft tat. Ich vermute, sie wollte nicht, dass ihre Tochter weglief und ihrLeben ruinierte. «Ich bin nicht du», brüllte Helene sie einmal an, und Ma brüllte prompt zurück: «Das bist du eben doch!» Mir war ganz mulmig bei diesen Streitereien, aber rückblickend würde ich ihnen beiden einen Oscar dafür verleihen. In meiner Vorstellung sind es Szenen aus einem schönen Film, den ich gern noch einmal sehen würde. Manchmal lag Helene Ma am Ende schluchzend in den Armen. Und bisweilen erwischte ich die beiden flüsternd und kichernd unten auf dem Sofa. Oft verstummten sie, wenn ich ins Zimmer kam. Das machte mich wahnsinnig. Für was hielten sie mich, eine Spionin, die ihre Geheimnisse auskundschaften wollte? «Komm her», sagte Ma dann, «setz dich zu uns.» Und natürlich tat ich das, aber es kam mir immer wie eine Feuerprobe vor. Meistens versuchte ich, mir etwas wirklich Witziges einfallen zu lassen, nur um sie zu beeindrucken.
Wenn ich heute ausraste, geht Ma einfach weg. Sie streitet nicht wie mit Helene. Manchmal sind meine Anfälle echt, manchmal sind sie gespielt, aber ich glaube, Ma merkt gar keinen Unterschied. Die Albträume in den ersten Monaten waren echt, aber es war immer Pa, der zu mir ins Zimmer kam. Hin und wieder habe ich immer noch schlechte Träume, aber meine Eltern wissen nichts davon, weil ich nicht mehr nach ihnen rufe. Der Baum hat mir beigebracht, wie ich atmen muss, wenn ich aus einem bösen Traum erwache, und wie Gedankenübungen gehen. Wenn man solche Sachen lernt, kommt man ganz gut allein zurecht. Man braucht keine anderen Leute mehr, die einen von vorn bis hinten bedienen.
Ich verbringe viel Zeit in Hs Zimmer. Manchmal male ich mir aus, wie ich dort schlafe und Ma die Tür öffnet, mich unter der Decke sieht, aber im ersten Moment nicht merkt, dass ich es bin. Sie glaubt, es sei Sie-wissen-schon. Sollte das je in Wirklichkeit passieren, würde ich nicht
buh
machen oder so, sonst bekäme sie nocheinen Herzschlag. Ich würde ganz ruhig liegen bleiben, die Decke über dem Kopf, und es sie selbst herausfinden lassen.
Ein paar Wochen, nachdem Helene gestorben war, saßen wir – Ma, Pa und ich – eines Abends beim Essen, als das Telefon klingelte. Nur kam das Klingeln nicht aus der Küche, sondern von oben. Es war das Telefon in Helenes Zimmer. Prinzesschens Privatanschluss, wie Ma es nannte. Es klingelte ungefähr zwanzig Mal, aber niemand rührte sich. Am nächsten Tag ließ Ma die Leitung kappen. Kennen Sie den Film über diese erwachsene Frau, die auf einer Zeitreise zurückkehrt in das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, und als das Telefon klingelt, nimmt sie ab und ihre Großmutter ist dran? Die beiden reden über nichts Besonderes, aber man sieht die Frau weinen, denn in der Zukunft, aus der sie kommt, ist die Großmutter tot. Filme können solche Sachen, darum sind
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