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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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mir nur die Bilder an. Pa hat nicht viel für religiöse Bücher übrig. Außerdem erinnert es ihn wahrscheinlich an Sie-wissen-schon. Am ersten Tag, als sie es gekauft hatte, brachte sie es zum Abendessen mit an den Tisch und las uns allen einen Absatz vor. Ich konnte ihn wiederfinden, weil sie ihn unterstrichen hat:
Als Arjuna all seine Freunde und Verwandten im feindlichen Heer erblickte, ward er von höchstem Mitleid übermannt, ließ fahren Pfeil und Bogen da, durch Schmerz verwirrt in seinem Geist.
Die kümmerliche Bleistiftlinie unter dem Satz ist so blass, dass man heulen möchte. Ich habe das kleine Buch stundenlang im Haus mit mir herumgetragen wie ein kostbares Täschchen, das genau zu meiner Kleidung passt. Ma hat es noch nicht bemerkt, oder wenn doch, beißt sie sich auf die Lippen.
    Ich weiß nicht genau, was ich eigentlich will.
    Ich glaube, irgendwie würde ich sie gern sehen. Viele Leute haben schon Tote gesehen, Berichte darüber gibt es genug. Träume sind einer der beliebtesten Schleichwege für die Rückkehr der Verstorbenen. Aus irgendeinem Grund hat man sie früher, in denalten Zeiten, viel häufiger gesehen. Vermutlich sehen Arme sie leichter als Reiche. Und Alte leichter als Junge. Hunde sehen sie wahrscheinlich dauernd. Ich habe mir jede Menge Infos aus dem Internet geholt.
    Wenn du Toten begegnest, wollen sie dir manchmal etwas geben, aber wenn es etwas Essbares ist, solltest du es nicht essen. Auch wenn sie versuchen, dir Geld zu geben: Nimm es nicht, ist die allgemeine Regel. Sachen aus dem Land der Toten können giftig sein oder Unglück bringen. Du kannst plötzlich in eine andere Welt gezogen werden, aus der du nie wiederkommst. Wenn Helene mir einen Apfel oder einen Dollar geben wollte, würde ich auf jeden Fall zugreifen. Ohne Zögern.
    Aber ich habe Helene nie gesehen. Sie ist mir nicht im Traum erschienen, kein einziges Mal, jedenfalls nicht richtig, als Ganzes. Sie hat nie unter einem Baum im Hinterhof oder nachts unter einer Straßenlaterne gestanden. Sie ist auch nicht im Haus erschienen, durch den Flur schwebend und mich lockend, ihr zu folgen. Die einzige Person, die mir je im Traum erscheint, ist der Mann, der sie geschubst hat, aber auch der hat kein Gesicht. Manchmal sind es nur Träume von Zügen.
    Eins wüsste ich gern: Wollen die Toten, dass wir auch tot wären, oder wollen sie, dass wir leben? Manchmal frage ich mich, ob Helene eifersüchtig auf mich ist. Ist sie sauer, wünscht sie sich, wir könnten die Plätze tauschen? Aber dann frage ich mich wieder, hat sie eigentlich einen Geist, um überhaupt an mich zu denken? Ist noch irgendetwas von ihr da? Ich bin froh, dass ich wenigstens die Briefe und die E-Mails und die Zeichnungen habe. Aber das Passwort ist das Wichtigste, es ist wie eine verschlossene Tür, hinter der sich Geister verbergen könnten. Vielleicht sind es nur altmodische Geister, die einem Äpfel zustecken wollen. Moderne Geister gehensicher neue Wege. Sie hätten nichts dagegen, sich elektronisch zu melden.
    Ich denke auch, dass Helene vielleicht ein Spielchen mit mir treibt. Im letzten Jahr, als sie noch lebte, hat sie mich nur noch wie Luft behandelt, und vielleicht spielt sie jetzt dasselbe Spiel. Aber nachdem Menschen gestorben sind, müssten sie anders sein, voller Liebe und Mitgefühl. Sie dürften nicht so kalt sein.
    Zum Beispiel hat Helene mich nie ihre Kleider anziehen lassen. Dabei hatte sie wirklich superschöne Sachen. Morgen, habe ich beschlossen, werde ich eines ihrer Kleider tragen. Das gehört zu meinem Plan. Es wird sicher nicht richtig passen, aber das macht nichts. Wenn ich wollte, könnte ich beinahe Helene
sein
. Ich müsste etwas dran arbeiten, na und? Jedenfalls eine interessante Idee. Wie fände Ma das wohl, wenn Helene plötzlich im Wohnzimmer auftauchte?
    Morgen ist der große Tag. Ein Jahr genau.
    Komisch, in ein paar Jahren bin ich älter als Helene. Es sei denn, auch die Toten werden älter. Ich weiß nicht recht, wie das funktioniert. Ich erinnere mich, vor langer Zeit hatte Ma eine Geldkarte mit einer Geheimnummer. Manchmal durften Helene und ich die Zahlen tippen, wenn wir einkaufen oder auf der Bank waren. Wir mussten Ma versprechen, die magischen Zahlen niemandem zu verraten. Dafür belohnte sie uns mit einem schlauen Trick, wie man sie leichter behalten kann. Wenn Helene sechsundzwanzig ist, sagte sie, bin ich sechsundvierzig.
    2646.
    Ob Ma die Karte wohl noch hat? Wenn ja, hat sie die Zahlen sicher geändert.
    1646

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