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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ich.
    Sie lächelte halbwegs, aber falsch, man sieht es sofort. Cynthia Callis hätte das besser hingekriegt. Mas Kleid flatterte im Wind, und ich dachte, flieg doch weg, wenn es das ist, was du willst.
    «Was hast du gesagt?», fragte Ma.
    «Nichts», sagte ich. Es fühlte sich an, als schlügen die Straßenlaternen mir ins Gesicht.
    «Hier», sagte Ma, indem sie mir ihre Jacke über die Schultern legte.
    «Mir ist nicht kalt», sagte ich. Aber ich fror.
    Ich sah, wie sehr Ma fürchtete, ich könnte anfangen zu schreien. So wie in den ersten Monaten, als ich schreiend aus Träumen erwachte. Irgendwie, dachte ich, habe ich Ma absolut in der Hand. Ich stellte mir vor, die Faust zu schließen und sie in tausend Stücke zu zerbrechen. Ich wollte ihr meine Finger um die Kehle legen und sie zum Singen bringen.
    «Da kommt dein Vater», sagte sie.
    Pa fuhr mit dem Auto vor, und ich rannte hin. Ich legte mich auf den Rücksitz und wickelte mir Mas Jacke um den Kopf, was bedeutete:
Privat, Zutritt verboten
.
    Auf der ganzen Fahrt nach Hause sagte niemand ein einziges Wort. Mas Jacke hatte den Duft meines liebsten Parfüms, das so schön nach Puder riecht, aber heute wurde mir davon noch schlechter. Einmal glaubte ich, Ma und Pa flüstern zu hören, doch als ich den Kopf heraussteckte, war es nur das Radio. Pa hatte es ganz leise gestellt. Es waren fremde Stimmen.
    Ich muss hier raus, dachte ich. Ich begann zu weinen und schluckte geräuschvoll die Tränen herunter.
    «Isst du was?», fragte Ma.
    Da hielt ich den Atem an. Ich stellte mich tot.
    Aber dann musste ich unfreiwillig Luft holen.
    Als wir in der Einfahrt hielten, sah ich Pas Augen im Spiegel. Ich glaube, er sah mich ebenfalls. Eine Sekunde lang sahen wir einander an, und mit dem Spiegel zwischen uns war es fast, als käme die Wahrheit heraus.
    So ungeheuerlich, dass ich den Kopf beugte. Ich erbrach mich ins Auto. Alles drehte sich, und ich verlor mich wieder in der Zeit. Ein paar Jahre vergingen, vielleicht spulten sie auch zurück, denn als Nächstes erinnere ich mich nur, dass Pa mich ins Haus trug und in mein Bett legte. Wie vor tausend Jahren, als ich ein Baby war. Ein kleiner Engel. Als wir die glücklichsten Menschen waren, die je auf Erden gelebt hatten.

Elf
    Pa sagte, ich hätte geschrien. Phantasiert, sagte er.
    «Was habe ich gesagt?», wollte ich wissen.
    Er habe es nicht verstanden, sagte er.
    Ich fragte ihn, wie spät es sei, und er sagte drei Uhr morgens.
    «Schlaf», sagte er. Seine Stimme war gut. Er war absolut mein Vater. Ich hatte die Decke aus dem Bett gestrampelt, und er legte sie wieder um mich.
    Ich fragte ihn, ob ich einen Namen gesagt hätte.
    «Nein», sagte er. «Mach die Augen zu.»
    Dann war er weg. Ich weiß nicht einmal, wie er aus dem Zimmer verschwunden ist. Er kam und ging die ganze Nacht, wie die Delfine im Sea World Park. Ma kam einmal herein. Nicht wirklich herein, sie stand bloß an der Tür.
    Aber meistens war es Pa. Irgendwann nahm er eine Puppe von meinem Regal. Er steckte sie zu mir ins Bett. «Nicht zu alt für Polly, oder?»
    «Das ist nicht Polly», sagte ich. «Das ist Grace.»
    «Welche ist Polly?», fragte er.
    «Polly ist tot», sagte ich. «Polly ist gestorben.»
    «Oh», sagte er. «Also dann Grace.»
    Als Pa sie neben mich legte, ließ ich sie einfach liegen. Ich nahm sie nicht in die Arme. Ich tat so, als wäre sie eine Fremde, als liebte ich sie nicht. Wenn ich eine Geschichte erfinde, ziehe ich das recht gut durch. Der Baum hat mir einmal gesagt, ich hätte eine schöne Phantasie. Aber du musst aufpassen, sagte er. Du musst aufpassen, dass du es nicht zu weit treibst.
    Wie weit ist zu weit?, frage ich mich. Wenn es Männer gibt, die Mädchen vor Züge schubsen, scheint nichts zu weit.
    Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber ich kann es schon sagen:
    H.S.S.H.
    Ich sehe das anbrechende Licht durchs Fenster kommen, die ersten Finger der Dämmerung.
    Bitte hilf mir, sage ich. Und weiß nicht einmal, mit wem ich spreche. Spreche ich mit ihr? Spreche ich mit Ihnen?
    Und ehrlich gesagt, wer sind Sie überhaupt?
    Sind Sie die Wächter?
    Sind Sie hier?

Zwölf
    An Helenes vierzehntem Geburtstag ist Ma mit H und mir zum Reiten auf einen Pferdehof gefahren. Ma konnte gut reiten, als sie ein junges Mädchen war. Das war offenbar ein wichtiger Teil ihres Lebens. Zuerst wollte ich nicht so nahe an die Pferde heran. Ma fragte, ob ich mich fürchte, und als ich Ja sagte, meinte sie, das brauche ich nicht, Pferde seien die

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