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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Klagen drang in alles ein. Ein paar Tage lang klang sogar Lukes Bellen wie Heulen und Klagen. Sogar Gelächter im Fernsehen.
    Nachdem wir über Russland geredet hatten, tranken wir schweigendunser Bier. In dem Moment tauchte die Spinne auf. Sie ließ sich an ihrem unsichtbaren Faden von der Decke fallen und hing ein paar Zentimeter über dem Boden. Als sie endgültig gelandet war, krabbelte sie zu Kevin, über die Aufschläge seiner Jeans. Keiner von uns regte sich, und ich nehme an, die Spinne hielt uns einfach für Möbel. Da hob Kevin die Hand, um sie zu zerquetschen, aber ich sagte: «Nein, lass sie in Ruhe.» Nicht, dass ich plötzlich geglaubt hätte, sie sei ein Schutzengel oder so, aber es hatte etwas von einem Wunder, die Art, wie sie aus dem Nichts gekommen war, fast als hätten wir sie erfunden. Es war eine von denen mit wimperndünnen kleinen Beinen. Wie konnten wir das tun, solche Tiere quälen? Damals, in der Festung. Ich wunderte mich, wie blind wir gewesen waren, und der blaue Krishna mit seiner grenzenlosen Liebe zu allen Lebewesen kam mir in den Sinn.
    «Mach sie tot», sagte Anna. «Worauf wartest du?» Kevins Hand schlug zu, und die Spinne war nur noch ein bisschen aschige Schmiere auf Kevins Hose. Ich dachte an einen abgebrannten Streichholzkopf. In meiner Vorstellung war es, als hätte Kevin gerade eine Flamme ausgelöscht. Das ist es, was Tod bedeutet.
    «Ich kann nicht auf dem Boden schlafen, wenn da Viecher sind», sagt Anna.
    «Ich schlafe mit dir», sage ich. Ich meine das nicht sexuell, aber Kevin macht gurrende Liebesgeräusche.
    «Du hättest sie nicht zu töten brauchen», sage ich zu ihm.
    «Sie hätte giftig sein können», sagt Anna.
    Und sie hat recht. Ich meine, was geht mich eigentlich eine blöde Spinne an? Schließlich hat nicht jeder blaue Haut und eine Krone aus Pfauenfedern. Nicht jeder ist immer nur Liebe Liebe Liebe. Heutzutage schon gar nicht.

    «Was willst du denn damit?», frage ich Anna. Sie hat ein Fläschchen Nagellack in der Hand.
    «Ich muss meine Nägel fertig machen», sagt sie. «Das mache ich jeden Freitag.»
    Ich sehe Kevin an und schüttele den Kopf. «Nagellack im Luftschutzbunker», sage ich.
    Aber Kevin reagiert nicht. Er stöbert wieder in den Ecken herum. Ich beobachte ihn aus den Augenwinkeln, dass er bloß nicht an Helenes Sachen geht.
    Anna streicht das Pink schon auf ihre Nägel. «Ich fasse es nicht, dass du dieses Zeug mit in den Luftschutzbunker bringst», sage ich.
    «Hör auf damit, Mattie», sagt sie. «Das ist doch nicht wirklich.»
    «Wenn es wirklich wäre, hätte ich so was nicht mitgebracht», sagt sie.
    Ich hasse sie, wenn sie so ist.
Wenn es wirklich wäre.
Als Nächstes wird sie Marshmallows grillen wollen. Sicher, Spaß muss sein, da ist nichts Schlimmes dabei, nur darf man die Hauptsache nicht aus den Augen verlieren. Ich wette, dass Anne Frank, auch wenn sie über die Bohnen und das große Furzen auf dem Dachboden lachte oder Witze machte, weil die Katze auf die Kartoffeln pinkelte, die Nazis nie ganz vergessen hat. Aber wer weiß, vielleicht doch. Es war eine unschuldigere Zeit. Kinder dachten damals nicht so viel an ihren eigenen Tod.
    «Was machst du da drin?», sage ich zu Kevin. Er ist jetzt im Hinterraum, beim Eingemachten meiner Großmutter. Ich höre, wie er die Gläser herumschiebt und dabei ständig angeekelte Geräusche von sich gibt.
    Anna, die ihre Nägel lackiert, und Kevin in der Einmachkammer, was soll das bedeuten? Ich trinke mein Bier und beobachte die beiden, und auf einmal springt der Film in die Zukunft, in der dasLeben uns auseinandergerissen hat. Anna schiebt einen Kinderwagen über die Straße, als wir uns zufällig begegnen. Sie erkennt mich nicht wieder, aber ich sie.
    «Anna McDougal?», sage ich.
    «Ja», sagt sie.
    Dann dämmert es ihr. «Mein Gott, Mathilda?», sagt sie und bricht in Tränen aus.
    «Ich wusste nicht, was mit dir passiert war», sagt sie. «In dem ganzen Chaos nach dem Terror hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dich je wiederzusehen.»
    «O Mathilda.»
    Wir legen eine Schweigeminute ein. Keiner von uns schaut auf die Uhr. Wir starren einander einfach in die Augen.
    «Du siehst gut aus», sage ich. Was man Leuten eben sagt, wenn man sie länger nicht gesehen hat.
    «Du auch», sagt sie. Das muss man sagen, auch wenn es gelogen ist. Aber sicher werde ich tatsächlich gut aussehen. Ich stecke mich in ein teures Kostüm. Schwarz.
    «Wie geht es deinen Eltern?», fragt Anna.
    «Sie sind tot»,

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