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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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mein Gott», sagt Anna.
    «Was?», sage ich.
    «
Wo
gehen wir denn aufs Klo?», fragt sie.
    «Dafür habe ich den Eimer runtergeholt», sage ich.
    Kevin lacht. Mit einem Stock rührt er in dem abgestorbenen Schleim.
    «O mein Gott», sagt Anna wieder.
    «Was ist?», frage ich. «Musst du?»
    «Nein», sagt sie. «Ich gehe nicht auf einen Eimer.»
    Ich schaue sie an, und plötzlich weiß ich ganz tief innen, dass ich stark sein will. Stärker als die Pioniere, stärker als die Indianer. Ichwill den ganzen Winter mit nichts als einer Decke und einer Schachtel Streichhölzer durchstehen. Ich glaube, Anna würde schlappmachen. Das Bild, wie sie mit dem Kinderwagen an der Straßenecke steht, kehrt wieder. Es scheint nicht sehr fern.
    Ich wette, Rose und Violet und Daisy hätten in den Eimer gepinkelt. Wahrscheinlich mussten sie das damals sowieso. Ich wette, sie hätten uns ein paar Tricks verraten können, wie man in schweren Zeiten überlebt. Sie hätten Helene am Stuhl festgebunden und ihr auch den letzten Schimmer Lippenstift vom Mund gewischt. Vielleicht hätten sie sie retten können. Ma und Pa sind zu klug, um irgendjemanden zu retten. Die Klugen stellen sich am Ende immer als Schwächlinge heraus. Die Klugen sind nicht die, die einem helfen, ein Klavier aus dem Haus zu schaffen. Als Ma und Pa Helenes Klavier loswerden wollten, musste es von Spezialisten rausgetragen werden. Ich wette, Rose und Violet und Daisy hätten es selbst getragen. Wahrscheinlich hätten sie es gar nicht erst rausgeschmissen. Ich will nicht schwach sein, wenn ich erwachsen werde, und ich will nicht von Schwächlingen umgeben sein.
    Mit seinem blauen Haar und seinen Ketten könnte Kevin vielleicht ein guter Pionier sein. Ich wette, er würde in den Eimer strullen, ohne mit der Wimper zu zucken.
    «Wie macht sich die Suppe?», frage ich.
    Er rührt in dem Schleimtopf und grinst mich an wie Blödi. «Ich brauche noch ein Bier», sagt er. Er hüpft auf die Füße und schlittert in seinen Socken über den Zement, als lebte er schon tausend Jahre hier im Keller. Er fühlt sich absolut zu Hause.
    «Sonst noch jemand?», fragt er, aber Anna und ich haben noch mit der zweiten Flasche zu tun.
    Ich gehe rüber und setze mich zu meiner Liebsten. Ihre Augen bleiben auf die Fotos geheftet.
    «Wer sind all diese Leute?», fragt sie.
    «Wie hässlich die sind», sagt sie. «Ist das deine Familie?»
    «Nein», sage ich. «Ich kenne sie nicht.»
    Sie klappt das Album zu und schiebt es weg. Sie schlingt die Arme um sich, als wäre ihr kalt.
    «Mir ist langweilig», sagt sie. «Wenn du doch wenigstens einen Fernseher hier unten hättest.»
    Ich will sie umarmen, aber sie duckt sich weg. «Hör auf», flüstert sie, als schämte sie sich unserer Liebe, jetzt, wo Sowieso im Raum ist. Sie langt in den Haufen Süßigkeiten, nimmt einen Müsliriegel und bricht ihn in der Mitte durch. Anna isst nie etwas ganz. Höchstens die Hälfte, das ist ihre Grenze.
    Kevin geht einen Stapel alter Brettspiele durch. Mensch-ärgere-dich-nicht und Mühle und Mausefalle, mein altes Lieblingsspiel. Anna knabbert wie eine Hasenkönigin an ihrem Müsliriegel. Oben ist es ruhig. Oben ist Lichtjahre entfernt.
    «Jetzt könnte eine Bombe explodieren», sage ich, «und hier wäre es ganz still.»
    Anna sieht mich kauend an, aber ihre Augen lauschen.
    «
Irgendwas
würde man hören», sagt sie.
    «Vielleicht nicht», sagt Kevin.
    «Ein Lichtblitz», sagt er.
    «Aber auch den würden wir hier unten nicht sehen», fügt er hinzu.
    Mich überkommt ein Glücksgefühl, dass Kevin auf meiner Seite ist.
    «Deine Eltern könnten schon tot sein», sage ich zu Anna.
    «Nein, sind sie nicht», sagt sie.
    «Wie willst du es wissen», sage ich. «Du erfährst es erst, wenn du nach Hause gehst.»
    «Warum bist du so gemein?», fragt Anna.
    «Bin ich gar nicht», sage ich. «Ich bin nur ehrlich.»
    «Sie sind nicht tot», beharrt sie.
    «Ich habe nur
könnten
gesagt. Von
sein
war keine Rede.»
    «Nicht jeder stirbt», sagt Anna.
    Was soll das schon wieder heißen?
    «Jeder muss sterben», sage ich.
    «Mädels, Mädels», sagt Kevin. «Muss ich euch etwa trennen?» Es klingt genau wie unsere Sportlehrerin, Mrs Thorsland. Sogar Anna lächelt. Sie steht auf und geht dorthin, wo Helenes Sachen liegen.
    «Dein Bruder tötet also Terroristen, was?» Kevin schiebt sich näher an Anna heran.
    «Ich weiß nicht, was er macht», sagt Anna.
    «Aber er ist drüben, stimmt’s?»
    «Ja», sagt sie, ihre Stimme klingt

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