Mathilda Savitch - Roman
sage ich. «Gestorben.»
«Das tut mir ja so leid», sagt Anna und greift nach meiner Hand.
«Was ist das für ein Dreckzeug?», unterbricht Kevin meinen Film. Er hält ein Glas mit braunen Scheiben in der Hand.
«
Ämmmmmhhh
», sagt er, indem er mit aller Kraft den Deckel zu öffnen versucht.
«Mach es nicht auf», sage ich, aber da höre ich schon den Verschluss knallen und die verdorbene Luft entweichen.
Kevin entdeckt einen Eimer in der Ecke und kippt die braunen Scheiben hinein.
«Krass», sagt Anna. «Ist das zum Essen?»
Kevin bringt den Eimer her, und wir starren alle drei hinein.
«Das ist von meiner Großmutter», sage ich.
«Was von deiner Großmutter?», fragt Kevin.
Obwohl mir wieder übel ist, fange ich an zu lachen, ergebe mich dem Lachen, bis es mich am ganzen Körper schüttelt. Ich tunke sogar meine Hand in das Eingemachte, nur um zu zeigen, wie mutig ich bin. Ich ziehe eine Obstscheibe heraus und wackle damit herum.
«Das sind ihre Zehen», sage ich.
Anna quietscht und Kevin ächzt.
Ich lasse die Scheibe wieder in den Eimer fallen, und auf einmal herrscht im Keller eine Bullenhitze. Ich japse nach Luft.
«Was ist los?», fragt Anna.
«Nichts», sage ich. «Ich muss mir nur die Hände waschen.»
Ich nehme eine Flasche Wasser und gieße mir etwas über die Finger. Ich verschütte etwas, sodass es eine blöde Pfütze gibt. Und plötzlich wünsche ich mir, ich läge oben mit Luke in meinem Bett. Ich wünschte, ich wäre nie hier unten in den Keller gekommen.
Aber zu spät. Es gibt kein Zurück. Vom Boden schaut mich ein Gesicht an. Mein eigenes Gesicht in der Wasserpfütze. Hypnotiseur, der den Willen lenkt.
Bleib, wo du bist, dummes Ding.
Keinen verdammten Schritt weiter.
Zweiundzwanzig
Das wichtigste Ereignis meines Lebens, und ich war nicht einmal dabei. Was nicht heißt, ich könnte es nicht sehen. Doch. Ich sehe es die ganze Zeit. Immer sehe ich Helenes Haar im Wind wehen. Manchmal weht es ihr ins Gesicht, sodass ich ihren Ausdruck nicht erkennen kann. Ich weiß, sie trägt ihren blauen Mantel. Ich weiß, sie hat ihre braunen Stiefel an. Ich weiß, es sind die Ohrringe mit den grünen Steinen, der Farbe von Meeresalgen. Das sind schlichte Fakten, man braucht keine Phantasie, um sie vor Augen zu haben. Was ich nicht sehe, ist der genaue Augenblick. Alles reißt in der Sekunde ab, in der die Hände ihre Schultern berühren.
Mit ihrem Körper, das war ziemlich grauenhaft. Ich habe es nicht selbst gesehen, nur Gerüchte gehört. Ma und Pa haben es gesehen, darum sollte man ihnen manchmal etwas Mitgefühl entgegenbringen. Alles, was ich je gesehen habe, war die verschlossene Kiste. Der Sarg. Konnten sie ihr überhaupt ein Kleid anziehen, frage ich mich. Und welche Schuhe hatte sie an? Am Tag der Beerdigung habe ich in ihren Schrank geguckt, welches Kleid fehlte, welche Schuhe. Aber alle ihre Sachen waren noch da, soweit ich wusste jedenfalls. Vielleicht lag sie barfuss in der Kiste. Vielleicht nackt. Aber das hätte Ma nie zugelassen. Ma hätte sie zugedeckt.
Wenn der Film in meinem Kopf abläuft, ist meistens Schluss, sobald die Hände an ihren Schultern sind. Alles wird schwarz. Aber manchmal läuft der Film wieder an, nur dass es kein Film mehr ist, sondern ein Foto. Ein Bild von ihrem Körper. Das Bild kommt später, getrennt. Ein Bild von ihrem Körper nach dem Unfall. Aber auch das sieht nicht echt aus, immer gestellt. Es sieht nie aus wiewirkliches Blut. In meiner Vorstellung ist es nur rote Farbe, die jemand über sie gegossen hat.
Kevin macht immer noch mit den Scheiben im Eimer herum, hockt darüber wie ein Höhlenmensch. Ich bleibe auf Abstand, damit mir nicht wieder schlecht wird. Anna hat ein dickes schwarzes Buch vor sich. Sie hat eins von Mas Fotoalben herausgefischt. Zum Glück ist es ein altes, als noch keiner von uns geboren war. Ma hat es mir vor langer Zeit einmal gezeigt. Lauter Frauen mit langen Gesichtern und Namen wie Rose und Violet und Daisy. Von manchen weiß Ma nicht mal, wer sie sind. Wir wissen die Namen nur, weil jemand sie auf die Rückseite der Bilder geschrieben hat.
Violet im Garten, 1925. Rose in Joe Farrows Auto, 1936.
Ehrlich, manchmal wünschte ich mir, ein großes Feuer würde den ganzen Kram hier unten verbrennen.
«Hast du auf den Boden gepinkelt?», fragt Kevin.
«Nein», sage ich, aber mein Herz pocht, weil das meine große Angst ist.
«Das ist nur Wasser», sage ich. Ich stehe immer noch neben der Pfütze vom Händewaschen.
«O
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