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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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und imitiert mich und meinen offenen Mund.
    Auch Anna macht das Fischmaul, aber erstaunlicherweise habe ich keine Lust, die beiden umzubringen. Obwohl sie sich über mich lustig machen, fühle ich mich irgendwie geehrt. Ich habe das Gefühl, sie kennen mich. Vielleicht sehen sie sogar das goldene Medaillon und die Vogelfedern in meinem Bauch. Vielleicht kennen sie all meine tödlichen Geheimnisse. Also gebe ich ihnen das Fischmaul einfach nur zurück. Ich gebe es ihnen in seiner ganzen fischigen Herrlichkeit zurück, und dann schaue ich mich um und suche die versteckten Kameras im Raum. Irgendwie hoffte ich, die Wächter würden das sehen. Sie würden sich Notizen machen. Wir drei mitten im Krieg glücklich beieinander. Es ist wichtig, dass solche Momente festgehalten werden. Eines Tages, wenn von uns nichts mehr übrig ist, können sich die Nächsten, wer immer sie sind, die Aufzeichnungen anschauen und sagen:
Oh, so waren die also.
Das wäre keine wirkliche Unsterblichkeit, aber wenigstens ein Schnipsel.
    «Eine Menge Zeug, hier unten», sagt Kevin.
    «Gerümpel», sage ich.
    «Darf ich mich mal umsehen?», fragt er und lässt sein zweites Bier aufknallen. Er wartet meine Erlaubnis gar nicht erst ab. Er steht auf und geht zu einem Stapel Kisten.
    «Scheiße», ruft er und macht einen Satz zurück, «Mäuse!»
    Wie ein Blitz ist Anna auf den Füßen, und Kevin prustet.
    «War nur ein Witz», sagt Kevin.
    «Vielleicht war es ein Geist», sage ich.
    «Kann sein», sagt er und gibt Laute von sich wie in einem Horrorfilm. Die Musik direkt vor dem Moment des Grauens. Mein Magen macht eine halbe Drehung. Jetzt läuft es in die falsche Richtung, denke ich. Bloß keine Geistergeschichten. Ich könnte mich ohrfeigen, das aufgebracht zu haben.
    «Halt den Mund», sage ich zu Kevin, «sonst hören sie uns noch.»
    Ich merke, wie Anna erstaunt zu mir herüberschielt, wie sie die Nase rümpft über meine Ängstlichkeit.
    «Gib mir noch ein Bier», sage ich.
    «Sag bitte», verlangt Kevin, und ich tue es.
    Anna sieht Kevin an, und ich kann wohl sagen, sie erkennt seine Stärke. Sie streicht sich das Haar hinters Ohr. «Ich nehme auch noch eins», sagt sie. Kevin wendet sich ihr zu und starrt sie an, mehr nicht, er wartet.
    «Bitte», sagt sie schließlich.
Bitte.

    «Ich kann den Probealarm nicht leiden», sagt Anna. «Manchmal hält er mich die ganze Nacht wach.»
    Wir sitzen alle drei im Kreis, die Bierflaschen vor uns wie Mikrofone. Wir hängen darüber wie die Männer auf der UN-Konferenz im Fernsehen.
    «Warum haben wir überhaupt Sirenen?», sagt Anna. «Der Terror ist doch nicht hier passiert.»
    «Einfach idiotisch», ist ihre geniale Schlussfolgerung.
    Das Bier macht sie redseliger als sonst, es ist faszinierend.
    Kevin fragt, ob wir Bilder von dem Anschlag in Russland gesehen haben. Der Bombe in der Schule. Ich sage ja, auf dem Computer.
    «Habt ihr gesehen, wie die Mütter geweint haben?», frage ich.
    Ich erzähle den beiden, wie ich den Videoclip
Heulen und Klagen: Die Stadt begräbt ihre Kinder
angeklickt habe. Es war unglaublich. Die Leute weinen ganz anders als bei uns. Bei uns drücken sie grade mal einen Tropfen ins Waschbecken. Die alten Frauen in Russland lagen auf den Knien, die Hände in die Luft gestreckt, wie Jesus-Freaks. Ich sah auch ein Mädchen in einem weißen Sarg, mit aufgebauschten weißen Tüchern innen, um ihm ein Nest zu machen. Es trug ein rosa Kleid und war ganz mit Rosen bedeckt, ringsum und obendrauf. Es sah aus wie Schneewittchen. Das rosa Kleid war voller Rüschen. Man würde so was sicher nicht zur Schule anziehen wollen, vielleicht auch sonst nicht im wirklichen Leben, aber es war das schönste Kleid für jemanden, der gestorben ist. Besonders für ein Kind.
    «War es da auch Terror?», fragt Anna.
    «Natürlich war es Terror», sage ich. «Alles ist nur noch Terror.»
    «Hast du den schwarzhaarigen Jungen mit den roten Lippen gesehen?», fragt Kevin.
    «Den blassen?», frage ich. «Ja», sagt er, «in dem winzigen Holzsarg.»
    «Er sah aus wie ein kleiner Vampir», sage ich.
    «Er war wunderschön», sage ich, und Kevin nickt, so traurig, als wäre der kleine Vampir sein eigener Sohn gewesen. Dann blicken wir alle auf den Boden, und ich glaube, es war eine Art Gebet, weil ich spürte, wie mir das Herz aufging.
    Ich habe Kevin und Anna nicht erzählt, dass ich das Video vom Heulen und Klagen, nachdem ich es angesehen hatte, nicht mehr abstellen konnte. Im Kopf, meine ich. Das Heulen und

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