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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sich wieder zu beschämen.
    «Luke», sage ich. «Lucky Luke, mein Junge.» Das entlockt seinem Schwanz ein schwaches Wedeln. Die Uhr zeigt 2:15 Uhr. Die Küche ist nicht mal mehr eine Küche, eher ein Wartezimmer.
    «Hast du die Krankenhäuser angerufen?», frage ich Pa.
    Während ich ihn am Telefon beobachte, den Rücken gekrümmt wie ein Fragezeichen, denke ich an die beiden letzten Küsse, die Ma mir gegeben hat. Den einen, als sie betrunken war, und den anderen, nachdem ich Helenes Aufnahme abgespielt hatte. So schrecklich sie auch waren, frage ich mich doch, ob ich vielleicht falsch reagiert habe. Was ein Kuss bedeutet, ist nicht immer hundertprozentig klar. Ein Kuss ist eine komplizierte Angelegenheit. Ich wüsste gern, wann Ma Pa das letzte Mal geküsst hat.
    Schließlich kommt mir ein Bild von ihr vor Augen, aber es ist das falsche. Eins aus ihren Fotoalben, als sie ein kleines Mädchen war.Sie trägt grüne Shorts und ein gelbes Hemd. Und dann kommt mir aus dem Nichts eine Geschichte in Erinnerung, die Ma mir früher mal erzählt hat, von ihrem Versuch, einen Vogel aus einem Grapefruitbaum zu scheuchen. Sie war damals noch ein Kind. Der Vogel machte ein furchtbares Spektakel, und sie wurde ganz wahnsinnig davon, weil sie lesen wollte. Am Ende warf sie einen Stein in den Baum und traf den Vogel genau am Kopf, was überhaupt nicht ihre Absicht gewesen war. Der Vogel fiel vom Baum wie eine reife Frucht und plumpste in den Dreck. Ma rannte ins Haus, um ihre Mutter zu rufen, aber als die beiden wieder rauskamen, war der Vogel weg. Anscheinend lachte meine Großmutter und sagte, mit einem Stein kannst du keinen Vogel töten. Ma wurde wütend, und obwohl sie nie daran gedacht hatte, Vögel mit Steinen zu töten, brachte sie die nächsten Wochen damit zu, es zu versuchen, nur damit sie einen ins Haus bringen und wie der fröhliche Jägersmann ihrer Mutter in den Schoß fallen lassen konnte. Ich fragte Ma, ob sie glaube, der Vogel habe nachher einen Dachschaden gehabt, und sie sagte, ich weiß nicht, ich will’s nicht hoffen. Und dann prusteten wir beide vor Lachen. Ich liebte es, wenn Ma mir Geschichten aus der Zeit erzählte, als sie in meinem Alter war. Es gab mir das Gefühl, wir seien beste Freundinnen oder hätten es sein können, wenn ich sie damals schon gekannt hätte. Sie wäre genau mein Typ gewesen. Ein Mädchen, das zu schüchtern war, um einem in die Augen zu sehen, aber trotzdem gut im Steinewerfen. Besser ging es nicht. Aber gerade jetzt an die blöde Geschichte zu denken, machte mich nur noch wütender.
    «Hast du die Polizei angerufen?», frage ich. Pa ist immer noch am Telefon, schon kurz davor, im Stehen einzuschlafen. Seine Augen sind geschlossen. Hört er mich überhaupt? Offensichtlich denkt er genauso an Ma, wie Kevin jetzt sicher an Anna denkt.
Kommt sieje wieder zu mir zurück? Wird sie mich je wieder lieben?
Wenn ich will, dass er mich hört, muss ich schreien. Bei zweien, die sich lieben, bleibt einem im Grunde nichts anderes übrig, als aufdringlich zu werden.
    «So, wie sie trinkt», sage ich, «hat sie wahrscheinlich einen Unfall.»
    «Und dann ist sie auch noch selbst schuld», sage ich.
    Pa schlägt die Augen auf, und zum ersten Mal in meinem Leben fürchte ich mich vor ihm. Er sieht mich an wie ein Terrorist, der nichts zu verlieren hat. Die Farbe unter seinen Augen könnte fast ein Veilchen sein.
    «Was fehlt dir?», fragt er. Als wäre ich eine Fremde, die bettelnd am Straßenrand sitzt. «Was fehlt dir, Mathilda?» Er richtet die Frage wie einen Zeigestock auf mich.
    «Nichts», sage ich. «Nichts, Pa.»
    Grrrr,
falsche Antwort. Pa starrt mich immer noch an.
    «Du musst gehen», sagt er, ruhig und furchtbar, und ich weiß nicht einmal, mit wem er spricht.
    «Wohin?», denke ich. Was meint er? Will er mich etwa aus dem Haus werfen? Plötzlich schießt mir eine Hitzewelle in den Nacken.
    «Ich gehe nicht», sage ich. Luke hebt den Kopf, als ich es sage.
    «Setz dich hin», sagt Pa. «Du weißt ja nicht mal, wovon ich rede.»
    «Ist mir egal», sage ich.
    «Setz dich», sagt Pa, «und hör auf zu schreien.»
    «Deine Mutter und ich glauben, du solltest wieder zu Dr. Milles gehen», sagt er. Er meint den Baum.
    «Nein», sage ich, und Luke bellt.
    «Nur zum Reden», sagt Pa. «Letztes Mal hat es dir geholfen.»
    «Wenn ihn jemand braucht, dann ist es Ma», sage ich.
    «Vielleicht ist sie ja gerade bei ihm», sage ich. «Vielleicht sind sie ein Liebespaar.»
    Pa sitzt am Tisch und

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