Mathilda Savitch - Roman
alles sehen kann.
Ich fürchte mich nicht vor dem Kuss. Ein Kuss ist nichts. Aber Kevins Hand unter der Decke, das ist eine andere Geschichte. Komplizierter. Ich frage mich, ob seine Finger versuchen, nach innen vorzudringen.
Hilf ihr, denke ich. Aber es ging nicht. Irgendwie nahmen meine Arme und Beine keine Befehle von mir an. Auch meine Stimme funktionierte nicht. Sogar die Tränen auf meinem Gesicht waren nicht meine eigenen. Ich weiß, dass Helene ein- oder zweimal miteinem Jungen hier nach unten gegangen ist. Um ihm ein Lied auf dem Klavier zu zeigen, wie sie sagte. Aber die Musik spielte nicht am Stück. Es gab lauter Pausen. Plötzlich war es, als hätten die Lebenden und die Toten beide Sex hier unten im Keller, und das gefiel mir überhaupt nicht.
Kevins Hand wirkt jetzt wie eine lustige Fingerpuppe, eine Maus unter der Bettdecke. Ich spüre eine Faust in meinem Magen. Für wen halten die sich eigentlich? Glauben sie, sie könnten einfach ohne mich auf die Reise in die Zukunft gehen? Ich bin so außer mir, dass ich die Stimmen oben nicht einmal bemerke. Erst als Kevin an die Decke blickt, höre ich den Tumult in der Küche. Aber Kevin lässt nicht ab. Seine Hand bewegt sich weiter, und Anna holt tief Atem, als sein Fingermesser in sie eindringt. Ich spüre es am eigenen Leib. Warum hindert sie ihn nicht? Warum kratzt sie ihm nicht ins Gesicht? Ist sie heimlich eine Hure?
Wer immer oben in der Küche spricht, schreit jetzt regelrecht. Ma oder Pa sind es nicht.
Ihre Tochter
ist das Einzige, was ich verstehe.
Ihre Tochter
. Es ist die Polizei, die von Helene spricht. Schlagartig klärt sich alles auf, ein Blitz in meinem Kopf. Die Polizei hat den Mörder gefunden, und meine phantastische Lüge kehrt unversehrt zu mir zurück. Warum hört Kevin nicht auf mit seinem Quatsch? Anna guckt jetzt nach oben, fleht mit ihrem blöden stummen Mund den Himmel an. Und als sie gerade etwas sagen will, bringt Kevin sie zum Schweigen, indem er ihr die Hände auf die Lippen legt. Anna verdreht die Augen wie ein wild gewordenes Tier. Die Stimme in der Küche ist unverkennbar.
«
Mom!
», ruft Anna und reißt sich von Kevin los. Jetzt weint sie, aber wen kümmert es. Kevin knipst seine dämliche kleine Lampe aus.
«Sei ruhig», flüstert er, aber dafür ist es schon zu spät.
«Verdammt noch mal, was glaubt ihr eigentlich, was ihr da macht?», sage ich. Ich knipse meine Taschenlampe an und leuchte dem Liebespärchen mitten ins Gesicht. Widerlich, das sind sie, dass sie es sozusagen auf dem Friedhof treiben.
«Seid ihr da unten?», rufen die Nazis. Am Ende holen sie uns doch. Einer schlägt so heftig an die Tür, dass sie fast aufbricht.
«
Mathilda!
» Sie kennen meinen Namen. Ich ziehe das Messer aus dem Gürtel.
«Anna?», ertönt eine andere Stimme.
«Mach sofort die Tür auf», sagt der Schläger.
«Nein!», schreie ich.
Anna springt auf in ihrem komischen Schlafanzug. Sie schüttelt die Hände, als wollte sie den Nagellack auf ihren Fingern trocknen. Dabei nähert sie sich der Treppe.
«Untersteh dich», sage ich.
«Tut mir leid», sagt sie mit dem hässlichsten Tränengesicht der Welt.
Kevin läuft im Kreis herum, ohne mich anzusehen. Die Nazis hämmern und schreien, und plötzlich rennt Anna zur Treppe. Ich folge ihr, aber sie ist zu schnell.
«Ich breche die Tür auf», sagt Pa.
«Dann tu es doch», sage ich. «Mach schon!»
«Das würde ich gern sehen», sage ich.
Ich versuche, Anna auf der Treppe zu erwischen, aber ich stolpere und schlage mit dem Mund auf den Boden. Anna ist halb oben, als die Tür aufbricht und das Licht hereinströmt. Die Nazis sind schwarze Schatten ohne Gesichter. Anna wirft sich einem von ihnen in die Arme. Kevin und ich beobachten von unten, wie sie den Kopf an der Brust ihrer Mutter vergräbt.
«Zum Kotzen!», rufe ich.
Ich drehe mich zu Kevin um, aber er guckt mich immer noch nicht an.
«Sagst du es bitte nicht weiter?», bittet er mit so dünner Stimme, dass es eine Schande ist.
Anna und ihre Mutter stehen zusammengekleckst oben auf der Treppe, der große Klecks, der dem kleinen Klecks das Haar streichelt. Warum knallt sie ihr nicht eine?, frage ich mich.
«Mathilda?», sagt Pa, indem er sich den Weg die Treppe hinunter bahnt. Ich weiche zurück und stelle mich neben Kevin. Dabei sehe ich Anna und ihre Mutter aus der Türöffnung ins Haus verschwinden. Als Pa unten ankommt und mich sieht, verstehe ich nicht, was er für ein Gesicht macht. Dann fallen mir meine Haare
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