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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sie wird noch mal versuchen, mich anzufassen.
    «Geh wieder in die Klasse», sagt sie.
    «Ja», sage ich, aber ich rühre mich nicht. Ungefähr zehn Jahre lang rühre ich mich nicht vom Fleck. So fühlt es sich jedenfalls an. Die Zeit ist seltsam neuerdings, hat mit Uhren nichts mehr zu tun.

    Nach der Schule beschließen Anna und ich, bei Mool noch Spiralpommes zu essen. Auf dem Weg dorthin fängt Anna nicht mit Carol Benton an, was mich sehr erleichtert. Stattdessen fragt sie, wie ich dieses Jahr die Jungen in unserer Klasse finde.
    «Nichts für mich», sage ich.
    «Keiner?», fragt sie. Offenbar muss sie selbst ein Auge auf jemanden haben.
    Anna und ich haben es noch nicht mit Jungen, jedenfalls nichtrichtig. Aber in letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass Anna ein bisschen auf Flirt macht. Diese neue Art, wie sie ihr Haar nach hinten wirft. Ganz schön beeindruckend. Wenn Anna mir etwas voraushat, dann ist es in diesem Bereich. Flirten läuft nicht über den Kopf, es ist tierisch. Aber Leute ohrfeigen auch, scheint mir. Wenn ich sie also ohrfeigen kann, müsste ich auch mit ihnen flirten können. Wahrscheinlich sollte ich mal darauf achten. Ein paar Sachen habe ich aus Helenes E-Mails gelernt, die fast alle von Jungen sind. Die Sprache wird manchmal ziemlich deutlich. Ich kann gar nicht glauben, dass sie diese Sachen ausgedruckt hat, wo Ma sie doch hätte finden können. Ich füge der Liste von Helenes Tugenden Heldenmut hinzu.
    Wenn man an seinen Körper denkt, weiß man kaum, wo man anfangen soll. Allein schon die Wörter dafür. Dein Gesäß ist dein Hintern und dein Po. Oder Arsch, um grob zu werden. Es gibt massenhaft Ausdrücke für alles da unten. Die Vagina heißt Möse, Muschi oder Schlitz. Und wenn du richtig abgefahren bist, auch Fotze, oder wenn du eine Schlampe bist und dich wer beleidigen will. Jungen haben nach meinen Berechnungen mehr Wörter für ihre Sachen als Mädchen. Penis, Pimmel, Peter, Pietz, aber das sind nur die mit P. Es gibt auch Schwanz, Nille oder Willi und Stengel oder Schwengel, Rammler oder Hosenmatz, und so ginge es stundenlang weiter. Brüste oder Titten, Bomben oder Möpse, und bei alten Damen ist es ein Busen, was urkomisch klingt. Wenn ich nur
Busen
sage, pinkelt Anna sich fast in die Hose.
    Einmal, vor langer Zeit, habe ich meinen Vater aus der Dusche kommen sehen. Er war nackt, und Ma war mit ihm im Badezimmer. Ich sah sein Ding, wie eine frisch ausgerupfte Karotte mit dem ganzen Kraut, Wurzeln und Haaren dran. Ich stellte es mir in meiner Mutter vor, als pflanzte man die Karotte wieder in den Boden,die dreckige Erde. Die Frau sei ein Garten, sagt man. Früher dachte ich an Blumen, aber seitdem denke ich Gemüse.
    «Lonnie ist nicht schlecht», sagt Anna.
    «Der Astronaut?», frage ich.
    «Er will kein Astronaut mehr werden», sagt sie. «Das war wohl vor drei Jahren.» Sie packt mich am Arm und zieht mich in Mools Imbissstube. Außer uns ist niemand da, und wir setzen uns in die Ecke, an unseren Lieblingsplatz.
    «Was darf’s sein?», fragt Mool, obwohl er genau weiß, Spiralpommes und Cola, wie immer. Er kommt zu uns herüber, gleichsam tanzend vor Freude über unsere Gesellschaft. Mool ist der glücklichste alte Mensch, der mir je begegnet ist. Alte Leute sind merkwürdig, entweder Echsen oder Vögel. Mool ist ein Vogel. Wenn er den Frittenkorb ins heiße Öl tunkt, macht er unfreiwillig jedes Mal
quack quack
, er kann nicht anders.
    Um ehrlich zu sein, könnte ich mir gut vorstellen, bei Mool zu leben. Ich frage mich, ob sich in den Hinterräumen eine Mrs Mool versteckt. Ich habe sie nie gesehen. Vielleicht ist sie es, die ihn so glücklich macht. Vielleicht haben sie gefunden, was sich ewige Liebe nennt. Kennen Sie
Das Geschenk der Weisen
? Stellen Sie sich das Paar fünfzig Jahre älter vor, das wären Mool und seine Frau.
    «Willst du am Wochenende bei mir schlafen?», fragt Anna. Auch das ist eine ihrer Fähigkeiten. Gedankenlesen.
    Annas Zuhause ist nicht von Glück erfüllt wie Mools Imbissstube, aber es ist nicht unglücklich, es hat seinen Charme. «Ja», sage ich, «sehr gerne.» Und plötzlich fühle ich mich so gut, dass ich Anna am liebsten von H.S.S.H. erzählen würde, aber irgendwie kommt es mir nicht über die Lippen. Vielleicht morgen. Alles zu seiner Zeit, sagt das Sprichwort. Helenes Jahrestag soll ein besonderer Tagwerden. Wer weiß, vielleicht schmeiße ich eine Überraschungsparty für Ma und Pa, damit sie aufwachen. Ma und Pa brauchen eine

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